PNN 25.1.12
Einbeziehung, Eingeschlossenheit, Dazugehörigkeit – es sind Übersetzungen des Wortes „Inklusion“. In Brandenburg steht der lateinische Begriff derzeit für das Projekt, behinderte Kinder an Regelschulen zu unterrichten.
Potsdam-Mittelmark - Von einer „Schule für alle“ spricht Bildungsministerin Martina Münch (SPD). Bis Februar sucht das Ministerium nach „Pilotschulen“ als Vorreiter. Ab 2015 sollen in Förderschulen mit den Schwerpunkten „Lernen, emotionale und soziale Entwicklung“ dann keine Schüler mehr aufgenommen werden.
Anna Rabien verfolgt die Veröffentlichungen zu dem Thema mit wachsendem Interesse, sie hält als Sozialarbeiterin an der „Sonderpädagogischen Förderschule“ in Kleinmachnow viel von der Gleichbehandlung beeinträchtigter Kinder. Doch in den vergangenen Wochen ist in ihr die Skepsis gewachsen, ob diese Version der „Inklusion“ funktionieren kann. Die bisherigen Diskussionsbeiträge aus dem Bildungsministerium haben sie jedenfalls alles andere als beruhigt.
Viele ihrer Schüler sind ohnehin kaum davon zu begeistern, die Förderschulen abzuschaffen. „Sie fühlen sich nicht durch diese Schulform ausgesondert, sondern kamen mit Erfahrungen des Ausgegrenztwerdens aus dem gemeinsamen Unterricht an Regelschulen“, so Rabien. Es sei für sie eine schreckliche Vorstellung, wieder zurückgeschickt zu werden. In einem Toleranz-Projekt habe eine Schülerin gefragt, ob es nicht diskriminierend sei, wenn Förderschulen abgeschafft werden, denn viele Förderschüler kämen auf Regelschulen überhaupt nicht klar. „Es ist nicht die Schulform, die ausgrenzt, sondern der Umgang der Gesellschaft mit ihr“, findet Rabien.
Für die Lernbegleitung von Förderschülern sollen laut Bildungsministerium an den Pilotschulen „3,5 zusätzliche Wochenstunden pro Schüler für fünf Prozent der Gesamtschülerzahl“ zur Verfügung stehen. Zu wenig, findet nicht nur die Lehrergewerkschaft GEW und rät von einer Bewerbung ab. Ähnlich komplex fällt die Formulierung der Klassenstärke der „Piloten“ aus: eine „Frequenzrichtlinie“ von 23 Schülern, eine „obere Grenze der Bandbreite“ von 25.
„Inklusionsklassen mit 23 Schülern sind ein Witz“, meint Rabien. Auch die Idee, dass zwei oder drei Förderschüler in eine Regelklasse „inkludiert“ werden, sei kaum umsetzbar. „Will man den beeinträchtigten Schülern eine Chance geben, muss die Klassenstärke halbe-halbe sein.“ Ein weiteres Problem liege in der sonderpädagogischen Ausbildung der Regelschullehrer – das Bild von ein paar Rollifahrern hinter der Schulbank sei unvollständig. „Die Störungsbilder unterscheiden sich erheblich und manchmal ist ein geistig behinderter Schüler sogar leichter zu unterrichten als ein verhaltensgestörter.“ Für unterschiedliche Störungen seien häufig unterschiedliche Fachkenntnisse erforderlich, weiß die Sozialarbeiterin.
Als Beschäftigte des Job e.V. kann Rabien ihre Meinung offener vortragen als viele betroffene Lehrer, die als Landesangestellte zur Loyalität verpflichtet sind. Hinter verschlossen Türen laufen die Diskussionen allerdings ganz ähnlich, gibt Schwielowsees Bürgermeisterin Kerstin Hoppe (CDU) zu erkennen. Die beiden Grundschulen ihrer Gemeinde, die sonst gern bei Pilotprojekten aller Art dabei ist, werden beim Inklusionsversuch nicht mitmachen, so Hoppe. „Die Schulleiter möchten das nicht.“ Bauliche Veränderungen, Personalfragen – vieles sei unzureichend geklärt. Ähnlich äußerte sich der Städte- und Gemeindebund Brandenburg: Es fehle allein schon an baulichen Voraussetzungen.
Was Zahlenspiele mit Klassenstärken anbetrifft, horcht man in Caputh ohnehin besonders aufmerksam auf: Laut der bereits geltenden Sonderpädagogikverordnung sollen Klassen mit Förderschülern, wie es sie seit Langem gibt, nämlich höchstens 23 Kinder haben. In der 1a der Einstein-Grundschule sind es 27, obwohl es einen Förderfall gibt. Vergeblich hatten die Eltern versucht, eine Änderung herbeizuführen, zumal sie nicht wie vorgeschrieben dazu befragt wurden. Mit einem Eilverfahren scheiterten sie sogar beim Oberverwaltungsgericht – denn Ausnahmen, so die Richter, seien zulässig.
„Das Thema der Klassenfrequenz ist bei der Inklusion noch viel ernster als in unserem Fall“, warnt Elternvertreter Andreas Masopust. Zwar hält auch er die Integration behinderter Kinder für wünschenswert. Er warnt aber, dass das nach hinten losgehen kann. „Wenn die Inklusion nicht massiv personell und finanziell untersetzt ist, werden Ausgrenzung und Gewalt wieder ein größeres Thema.“
Im Staatlichen Schulamt Brandenburg (Havel) wird darauf verwiesen, dass bereits an 28 Schulen des Amtsbezirks erfolgreich ein Modellversuch läuft, der der Inklusion „nahe kommt“, so Schulamtsleiter Ulrich Rosenau. „Nach bisherigem Gesprächsstand gehe ich davon aus, dass diese 28 Schulen am Pilotprojekt teilnehmen werden.“ Die Otto-Nagel-Grundschule in Nuthetal hat sich vorige Woche tatsächlich zur Teilnahme entschlossen. Wohl auch im Vertrauen auf die Zusage Rosenaus, dass die Inklusion ein „allmählicher und mit allen Beteiligten abgestimmter Prozess“ sei.
Anna Rabien vermisst derweil eine Abstimmung. Ihre Förderschüler als Betroffene seien überhaupt noch nicht gefragt worden, sagt die Kleinmachnower Sozialarbeiterin. „Ich lade Bildungsministerin Münch herzlich ein, sich mit den Schülern unserer Förderschule darüber zu unterhalten, welche Erfahrungen sie gemacht haben und was sie sich von einer Schule für alle wünschen würden.“ Dann könnte Münch auch ihr Bild von „kuscheligen Nestern, die leider nicht auf das Leben vorbereiten“ überprüfen. Als solche hatte die Ministerin die Förderschulen unlängst bezeichnet. „Eine Beleidigung für die Schulleitungen und Kollegien der Förderschulen“, meint Rabien.