Pnn 9.01.2012
Heimatverein Kleinmachnow lud zum Neujahrsspaziergang und streifte am Haus von Christa Wolf vorbei
Kleinmachnow – Es braucht Fantasie, um sich auf dem Grundstück gegenüber der Förster-Funke-Allee 26 in Kleinmachnow einen blühenden Garten vorzustellen, ein Idyll mit Rosen, Pfirsichbäumchen und gelben Butterblumen. Denn in der momentanen Januarkühle blüht hier gar nichts, und außerdem soll an dieser Stelle bald ein Eigenheim stehen – wie eine Immobilienofferte am Zaun vermuten lässt. Zumindest literarisch ist dieser Garten aufgehoben – in der Erzählung „Juninachmittag“ von Christa Wolf. Bei seinem traditionellen Neujahrsspaziergang streifte der Heimatverein Kleinmachnow auch jenes Haus, in dem die erst vor Kurzem verstorbene DDR-Schriftstellerin 1962 bis 1968 mit ihrer Familie lebte. Und den Garten gegenüber, der „nicht weniger war als der Traum, ein grüner, wuchernder, wilder, üppiger Garten“, wie sie einst selber schrieb.
Schon Wolfs Schriftstellerkollege Erwin Strittmatter war voll des Lobes für den „Juninachmittag“, und auch der Karikaturist und Buchautor Harald Kretzschmar, der am Samstag die Führung beim Spaziergang übernommen hatte, empfahl den kleinen Prosatext – vor allem weil die Schriftstellerin darin „einen ganz wesentlichen Teil vom Leben eingefangen hat, der für die DDR typisch war, besonders für den grenznahen Ort Kleinmachnow“, wie er sagte. So wird in dem Text die grüne Idylle eines Juninachmittages rigoros von Lärm zerschnitten, der von oben kommt. Erst brummt ein Verkehrsflugzeug aus Richtung Tempelhof heran, kurz darauf knallt ein Düsenjäger durchs Himmelsblau und Stunden später unterbricht das Knattern der Rotorenblätter zweier Hubschrauber einen nachbarlichen Plausch. „Das Thema Fluglärm ist für alte Kleinmachnower also nichts Neues“, merkte Kretzschmar dazu an.
Er wusste auch zu berichten, dass oft Besucher in die obere Etage des Hauses in der Förster-Funke-Allee kamen, darunter Maxi und Fred Wander, die nur kurz um die Ecke wohnten. Von weiter her kamen Heinrich Böll, Sarah und Rainer Kirsch. Ehemalige Nachbarn, die am Spaziergang teilnahmen, konnten sich an die Wolfs erinnern. So schneiderte eine Nachbarin auf sehnlichen Wunsch von Tochter Anette einen Rock, den jedoch die Mutter „zippelig“ fand, wie in dem Buch „Ein Tag im Jahr“ nachzulesen ist. „Zippelig war der nicht, aber nach Frau Wolfs Geschmack zu kurz“, erinnerte sich die Nachbarin schmunzelnd, die im Buch als „Ingenieurin P.“ verewigt wurde. Etwas Saum musste rausgelassen werden, erzählte sie, trotzdem habe das modische Stück bei der Schulfeier für Aufsehen gesorgt, denn es war der kürzeste Rock von allen, hatte die Dreizehnjährige danach stolz berichtet.
1968 zog Familie Wolf in die Fontanestraße 20, ehe sie 1976 nach Berlin übersiedelte. Nur wenige Häuser weiter wohnten einst Filmleute wie der Schauspieler Johannes Arpe, der in das Haus Karl-Marx-Straße 144 gezogen war, das bis 1961 von Regisseur Gottfried Kolditz bewohnt wurde. Wenn Autoren, Regisseure und Schauspieler in ein und demselben Ort wohnen, sei es naheliegend, auch zusammen zu arbeiten, berichtete Kretzschmar. So schrieb Werner Bernhardy, der gleich zwei Straßen weiter Auf der Breite 7-9 lebte, das Drehbuch für den Operettenfilm „Die schöne Lurette“, für den Kolditz die Regie führte. Auch nach der Wende zog es Künstler in den Ort, wie die Sängerin Veronika Fischer, die vor zwölf Jahren in das Haus Auf der Drift 10 zog, doch schon drei Jahre später wieder zurück nach Berlin ging.
In der gleichen Straße befindet sich das Haus Nummer 12, einstige Wohnadresse des Apothekers Georg Herzberg, den die Nazis verhafteten, weil der 72-Jährige als Jude ein Verhältnis mit seiner „deutschblütigen Haushälterin" hatte. Er starb im November 1942 im Zuchthaus Brandenburg. Die Studentin Geraldine Fritzsche dokumentierte in ihrer Bachelorarbeit die Geschichte des Hauses, das nach Enteignung Herzbergs ein „Judensammelhaus“ wurde, in dem auch der Altphilologe Walter Kranz mit seiner Frau Erna lebten. Beiden gelang noch 1943 die Ausreise nach Istanbul. Am 27. Januar wird die Geschichte des Hauses mit weiteren Ergebnissen der Kleinmachnower Projektgruppe Stolperstein in einer Ausstellung im Rathaus veröffentlicht.