PNN 13.8.11
Peter Ernst erinnert an das Ende der S-Bahn nach Stahnsdorf –
mit einer außergewöhnlichen Aktion
Stahnsdorf - Es waren nicht nur trauernde Angehörige, die mit der
sogenannten Friedhofsbahn aus Berlin nach Stahnsdorf kamen. Die Flügeltüren zum
Bahnhof am Südwestkirchhof dürften zwischen 1913 und dem 12. August 1961 kaum
einmal stillgestanden haben. Heimatforscher Peter Ernst hat den Betrieb der
S-Bahn noch selbst erlebt. „Schichtarbeiter fuhren früh um vier mit der ersten
Bahn nach Berlin, nachts um zwei Uhr kamen die Nachtschwärmer und die
Spätschicht zurück“, erzählt er. Dazwischen pendelten viele Stahnsdorfer
Schüler nach Berlin und zurück, nachmittags pilgerten Jugendliche in die
Hauptstadtkinos, die Erwachsenen abends ins Theater, ins Restaurant oder zum
Bummel auf den Kudamm. „Selbstverständlich fuhren wir
auch zum Einkaufen nach Berlin, dort war das Angebot einfach besser als in
Potsdam“, so Ernst.
Dann plötzlich blieben die Flügeltüren von einem Tag auf den anderen
geschlossen. Als die DDR-Regierung am 13. August 1961 die Grenze zwischen
russischem und amerikanischem Sektor mit einer Mauer zu trennen begann, fuhr
auch die Friedhofsbahn nicht mehr. Dabei war der Bahnhof erst wenige Monate
zuvor von Grund auf renoviert worden.
„Solange die Stahnsdorfer bei günstigem Wind das charakteristische Singen
der S-Bahn-Motoren alle 20 Minuten hören konnten, war noch alles in Ordnung –
in der Nacht vom 12. zum 13. August 1961 blieb das Geräusch aus. Und von da an
war die Welt nicht mehr in Ordnung.“ So schrieb ein Besucher 1996 als Kommentar
zu einer von Peter Ernst und der Kreisvolkshochschule erarbeiteten Ausstellung
„Peripherie – der verschwundene Bahnhof“.
Um 1900 waren im südlichen Berliner Umland mehrere große Friedhöfe
entstanden, die wachsende Großstadt brauchte Platz für ihre Toten. Die
Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg, die den Südwestkirchhof betreibt,
forderte von der Deutschen Reichsbahn eine Anbindung, die von Wannsee über
Kleinmachnow nach Stahnsdorf führte. Man einigte sich darauf, dass die
preußische Staatseisenbahnverwaltung eine Bahnverbindung vom Staatsbahnhof
Wannsee bis zum Südwestkirchhof bei Stahnsdorf herstellen und betreiben würde,
wenn die Berliner Stadtsynode die Gesamtkosten des Bahnbaus und des
Grunderwerbs trage. 1913 wurde die Friedhofsbahn in Betrieb genommen. Bald
darauf zogen nicht nur die Toten, sondern auch viele Berliner Bürger raus ins
Grüne, am südlichen Stadtrand entstanden zahlreiche Siedlungen.
Peter Ernst bekam erst recht spät mit, dass die Bahn, die ihn jahrelang zur
Schule, später zur Technischen Universität Berlin (TU) gebracht hatte,
stillstand. Denn am 13. August 1961 war er gerade in Prerow an der Ostsee. Es
waren Semesterferien und ich habe dort gezeltet“, erinnert er sich. Unter den
Urlaubern häuften sich die Gerüchte, dass die Grenze zwischen Ost und West
dichtgemacht würde. Ernst hielt das zunächst für Quatsch, konnte sich nicht
vorstellen, dass die USA das zulassen würden. Aus Angst vor Kontrollen,
vielleicht auch, um der Realität noch ein wenig zu entfliehen, blieb Ernst bis
Oktober an der Ostsee. „Dann wurde es zu kalt.“ Sein Studium am der TU fand ein
jähes Ende.
Heute vermisst Peter Ernst nicht nur die gute Anbindung nach Berlin, sondern
auch die persönliche Atmosphäre des Bahnhofs. Die Fahrkarten wurden noch am
Schalter verkauft und auf dem Bahnsteig gab es eine Kneipe, im Sommer mit
Stühlen vor der Tür und angenehm kühlem Bier.
Wie Peter Ernst ging es in den Jahren nach dem Mauerbau vielen
Stahnsdorfern. Die nicht mehr verkehrende Bahn sei eine Wunde im Gedächtnis der
Stahnsdorfer geblieben. Das hätten auch die Stasi-Spitzel bemerkt, 1975
schließlich sprengte man das Bahnhofsgebäude in einer Nacht- und Nebel-Aktion.
Damit sollte der Nostalgie, mit der die Stahnsdorfer an die Zeit vor dem
Mauerbau dachten, ein Ende gesetzt werden, ist Ernst überzeugt. Ein
vergebliches Unterfangen. Bis heute spürt Ernst „Schmerz und Entsetzen“, wenn
er über das abrupte Verschwinden des Bahnhofes spricht.
Alle Bestrebungen, die Bahn nach dem Mauerfall zur Wiederaufnahme der
Strecke zu bewegen, blieben bisher ohne Erfolg. Immerhin: Ein Detail des
Bahnhofgebäudes blieb erhalten. Nach dem Fall der Mauer zog Ernst mit seiner
Kamera durch sein Heimatdorf Kienwerder, um die neue Zeit festzuhalten. Dabei
stieß er auf ein Relikt der Friedhofsbahn. Die ehemaligen Flügeltüren des
Gebäudes dienten, nur wenige Straßen von seinem Haus entfernt, als Garagentore.
Zwei Anwohner hatten sich die 2,50 Meter hohen Holztüren mit eingesetzten
Glasfenstern gesichert. Als einer der beiden Besitzer seine Garagentür
irgendwann gegen eine neue austauschte, griff Ernst zu. Am heutigen Samstag um
13 Uhr werden sie an ihrem einstigen Standort wieder aufgebaut. Peter Ernst hat
sie für die Aktion mit einer schweren Kette geschlossen. Mit einem
Seitenschneider wird er sie sprengen. Zum ersten Mal seit 50 Jahren können dann
wieder Menschen durch die Bahnhofstüren gehen