PNN 10.1.11
Von Kirsten Graulich
Kleinmachnow - Als die Berliner nach dem Zweiten Weltkrieg neue
Straßenschilder bekamen, schrieb der Tagesspiegel im November 1946: „Die Namen
sind auf dreißig Meter leicht zu lesen, und selbst bei einer Entfernung von
fünfzig Metern fließen die Buchstaben noch nicht zusammen“. Entworfen hatte die
neue Antiqua-Schrift der Kleinmachnower Herbert Thannhaeuser (1898-1963), der
bis 1963 im Haus in der Ginsterheide 19 lebte.
Vor der Villa war die erste Station der traditionellen Neujahrswanderung, zu
der der Kleinmachnower Heimatverein am Samstag eingeladen hatte. Kundige
Ortsführer waren Buchautor und Karikaturist Harald Kretzschmar und Ingo Saupe,
die den rund 40 Teilnehmern auch manches Histörchen über die prominente
Bewohnerschaft der Eigenherdsiedlung zu berichten wussten. Kretzschmar hatte
den Schriftkünstler Thannhaeuser in den fünfziger Jahren kennengelernt, als er
seinerzeit vom Künstlerverband beauftragt war, den freischaffenden Kollegen die
Bezugsscheine für Atelierkohle zu überbringen. Der Meister, ein Satzspezialist
und Genauigkeitsfanatiker, hatte auch Sinn für Kunst. An der Atelierwand
hingen, so erinnert sich Kretzschmar, drei lebensgroße Aktbilder vom Maler
Willy Jaeckel. Thannhaeuser erzählte ihm, auch die Kohlenträger seien von der
erotischen Pracht beeindruckt gewesen. Jedes Mal, wenn sie die Säcke
kellerwärts trugen, hätten sie durchs Atelierfenster gelinst. Einen Träger muss
die optische Schwerkraft jedoch so überwältigt haben, dass ihm der Sack
entglitt und die Briketts im Dreck landeten, was Kretzschmar zu dem Kommentar
veranlasste: „Das war ein Sieg der Kunst über schnöde Handarbeit!“ Thannenhäuser,
der für verschiedene Schriftgießereien arbeitete, war 1935 nach Kleinmachnow
gekommen, wo er 1938 die „Thannhaeuser-Fraktur“ entwarf.
Als Thannhaeuser nach Kleinmachnow zog, gab es in der Siedlung bereits Wasser-
und Stromanschlüsse. Zehn Jahre zuvor mussten die „Eigenherdler“ sich noch mit
Regenwasser aus der Tonne begnügen, wie Ingo Saupe zu berichten wusste. Die
ersten Umzüge ins eigene Heim müssen denkwürdig gewesen sein, denn die Wagen
der Möbelspediteure hielten in den zwanziger Jahren noch auf dem Zehlendorfer
Damm. Von dort karrten sich die Siedler ihren Hausrat selbst zum Eigenheim.
In den dreißiger Jahren wurde Kleinmachnow auch Rückzugsort für jene, denen das
Gedöhns der neuen Machthaber zu laut war. Einer von ihnen war der
Schriftsteller Heinz Flügel (1907-1993), der im Machnower Busch 82 wohnte,
später an den Starnberger See zog und Studienleiter der Evangelischen Akademie
wurde. In dieser Funktion pflegte er Kontakte zu kirchlichen Kreisen in der
DDR, lud konfessionelle Schriftsteller ein und machte den Dichter Johannes
Bobrowski im Westen bekannt. Unweit von Flügels Haus wohnte der Hörspielautor
Heinz Schwitzke (1908-1991) im Sonnenhag 38. Während Flügel seine „Finnische
Reise“ schrieb, arbeitete Schwitzke nur ein paar Häuser weiter an seinem
Manuskript „Schwedischer Winter“. Obwohl fast gleichaltrig, kannten sich beide
nicht.
Anders bei der zweiten Generation der jungen Defa-Regisseure, die in den
sechziger Jahren im Ort ansässig wurden. Ralf Kirsten (1930-1998) und Konrad
Petzold (1930-1999) entdeckten im Sonnenhag leerstehende Häuser. Beide hatten
in Prag zusammen mit Horst Seemann Filmregie (1937-2000) studiert. Nicht
verwunderlich, dass einige Jahre später auch Seemann nach Kleinmachnow zog –
nicht weit entfernt von seinen Kollegen in das Haus im Föhrenwald 39. Kurios:
Alle drei bevorzugten für ihre Filme Darsteller aus dem Ort.