PNN 20.11.10

 

Von Tobias Reichelt

"Eine unsagbare WutW

Der drohende Fluglärm über der Region Teltow hat ihr Leben verändert: Familie Witt und Familie Sinnigen (20.11.10)

Teltow/Kleinmachnow - Mit beiden Händen hält Jasmin Witt die Ohren ihrer kleinen Tochter Vivienne zu. „Was ich jetzt sage, soll sie nicht hören“, erklärt die 42-Jährige. „Ich habe eine unsagbare Wut. Ich fühle mich verarscht und übers Ohr gehauen“, sagt Witt, eh sie die Ohren der Zweijährigen loslässt. Kein Jahr ist es her, dass die Familie aus dem fluglärmüberdröhnten Mahlow – nur wenige Kilometer vom künftigen Großflughafen in Schönefeld entfernt – in das fluglärmfreie Teltow geflüchtet ist. Jetzt könnte sie der Lärm hier wieder einholen.

Seit die Deutsche Flugsicherung Anfang September die Debatte über neue Flugrouten für den Flughafen in Schönefeld losgetreten hat, sind die Sorgen bei vielen Familien in Teltow, Kleinmachnow und Stahnsdorf groß. Über Nacht wurden sie vom drohenden Fluglärm überrascht. Statt an der Region vorbei, könnten die Jets in Höhen zwischen 1000 und 2300 Metern über die Häuser hinwegdonnern. Auch wenn die politische Debatte um die Routen angelaufen ist, die Angst, dass die Flugzeuge das idyllische Kleinstadtleben zerstören, ist enorm.

„Uns ist die Farbe aus dem Gesicht gefallen“, sagt Markus Witt. Im Autoradio hatte seine Frau die Horrornachricht gehört. Sie fuhr rechts ran und rief ihn an. „Plötzlich ist alles anders“, erzählt der 37-jährige Versicherungsangestellte. Die kleine Familie hat sich hoch verschuldet, um im Teltower Musikerviertel bauen zu können. Ein schickes Einfamilienhaus ist entstanden. „Das ist unser Lebenstraum“, sagt Markus Witt – und sie hatten gedacht, alles richtig gemacht zu haben.

Lange bevor die Familie nach Teltow zog, wurden Prospekte gewälzt. „Wir waren dem Flugverkehr in Mahlow ziemlich stark ausgesetzt“, erzählt Markus Witt. Tochter Vivienne habe bei Überflügen begonnen zu schreien – und die Jets kamen oft. „Gebaut hätte ich dort nie“. Endlich Ruhe, war eine der Voraussetzungen beim Hausbau. Die Witts informierten sich über die Flugrouten vom neuen Großflughafen, waren am Infozentrum in Schönefeld und im Infobus. Überall beteuerte man: Teltow wird nicht überflogen. Noch bevor sie den Kaufvertrag unterschrieben, gingen die Witts im Teltower Musikverviertel an die 30 Mal spazieren. „An Sommerabenden hörte man hier nur die Grillen zirpen.“ Inzwischen düsen schon jetzt einige verirrte Jets bei Landungen in etwa 750 Metern über das Viertel, wie sich auf der Internetseite der Flugsicherung ablesen lässt. Der Lärm ist auch im neuen Haus der Witts nicht zu überhören, trotz dreifach verglaster Fenster. „Das ist unrecht“, sagt Markus Witt.

Nur wenige Autominuten vom Haus der Witts entfernt, wohnt Familie Sinnigen in einem Neubauviertel am Stolper Weg in Kleinmachnow. Am Gartenzaun vor ihrem Einfamilienhaus hängt ein riesiges Plakat. „Eine Region wehrt sich“ ist in großen Lettern darauf gedruckt. Die beiden vorm Haus geparkten Autos sind randvoll mit Protestmaterial gefüllt: Plakate, Aufkleber, Infozettel.

„Plötzlich entdeckt man neue Seiten an sich“, sagt Petra Sinnigen. Die Flugroutendebatte hat das Leben der Kleinmachnower Familie verändert. „Wir sind nicht die klassischen Demonstranten“, sagt Olaf Sinnigen. Zuletzt waren der 39-jährige Beamte und die 43-jährige Bankangestellte vor 20 Jahren protestieren. Beim Fluglärm ist alles anders, „jetzt stehen die Spießer auf der Straße“, sagen sie.

Gemeinsam mit ihren zwei kleinen Kindern gehen Sinnigens an den Wochenenden protestieren oder stehen am Kleinmachnower Markt, um Zettel zu verteilen und Plakate zu verkaufen – selbst bei Regen. Abends sitzt das Ehepaar stundenlang am Computer, studiert Planfeststellungsbeschlüsse zum Flughafenbau und sucht nach neuen Zeitungsartikeln. Nicht selten bleibt Wäsche ungebügelt oder das Laub im Garten liegen. 2008 sind die Sinnigens in ihr Haus in Kleinmachnow gezogen. Vorher lebten sie in Berlin. „Wir haben uns Zeit gelassen für eine Standortanalyse“, sagt Familienvater Olaf. „Kein Fluglärm“, sei eine Bedingung gewesen. „Jetzt ist der Grund, warum wir hierhergezogen sind, infrage gestellt“, sagt seine Frau. Eine der Flugrouten soll über ihrem Haus verlaufen. Die Jets würden so laut wie ein Presslufthammer, sagt Vater Olaf. „Das ist menschenverachtend, deshalb gehe ich demonstrieren.“ Er wolle sich in zwei Jahren nicht vorwerfen lassen, zu wenig getan zu haben. „Dann könnte ich nicht mehr in den Spiegel schauen.“

Auch Familie Witt wird am heutigen Samstag nach Stahnsdorf fahren. Ab 15 Uhr haben die Fluglärmgegner hier zur Demonstration gerufen. Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) hat sich als Redner angekündigt – ob auch Tochter Vivienne dabei ist, weiß Jasmin Witt noch nicht. Zu lange müsste sie ihr wohl die Ohren zuhalten, soviel hat sie dem Ministerpräsidenten zu sagen.