PNN 6.10.10

 

Von Tobias Reichelt

Aufnahmestopp für Förderschule

Kleinmachnower Eltern werfen Landkreis vor, auf Schulschließung hinzuarbeiten (06.10.10)

Kleinmachnow - Carmen Marquis hatte Hoffnung. Vor einem Jahr war die Mutter aus Frankfurt (Oder) mit ihrem elfjährigen Ricardo nach Kleinmachnow gezogen. Hier, an der Albert-Schweitzer-Förderschule für geistig behinderte Kinder und Jugendliche, hatte sie endlich ideale Lernbedingungen für ihren Sohn gefunden. Als „klein und familiär“ beschreibt Marquis die Förderschule im Villenviertel am Erlenweg. „Ich habe meinen Sohn aufblühen sehen.“ In einem Jahr habe er mehr gelernt, als in fünf an seiner alten Schule. Jetzt soll das alles vorbei sein.

Der Landkreis Potsdam-Mittelmark hat ein Aufnahmestopp für die Albert-Schweitzer-Förderschule ausgesprochen. 24 geistig behinderte Schüler zwischen 6 und 21 Jahren werden hier derzeit unterrichtet – zu wenige in den Augen der Verantwortlichen beim staatlichen Schulamt und beim Landkreis, der Träger der Schule ist. Seit Monaten sind Lehrer und Eltern bemüht, die Schule zu retten. Sie sammelten Unterschriften und baten Politiker um Hilfe, passiert ist wenig. Eltern und Lehrer werfen der Verwaltung vor, gezielt auf das Ende der Schule hinzuarbeiten (PNN berichteten).

Heidrun Meinshausen ist wütend: „Dass kein Bedarf für eine Förderschule da ist, glaube ich nie im Leben“, sagt die ehemalige Schulleiterin, die heute in Rente ist. Anderenorts platzten Förderschulen aus allen Nähten – „nur in Kleinmachnow nicht?“, fragt sie. Eltern berichteten ihr und den PNN, dass das Schulamt die Familien geradezu gedrängt hätte, eine andere Schule zu wählen. In Kleinmachnow seien die Schülerzahlen gering, es drohe die Schließung, sei den Eltern gesagt worden – jetzt sei es tatsächlich bald soweit, findet Meinshausen.

Auch Grit Köpke sind die Vorwürfe nicht neu. „Viele Eltern, die sich einmal für unsere Schule interessiert haben, kamen nach dem Besuch beim Schulamt nie wieder her“, berichtet die kommissarische Leiterin der Albert-Schweitzer-Schule. Im Prinzip sei die Reaktion verständlich. Wenn ihnen gesagt werde, ihr behindertes Kind könne an einer Grundschule mit anderen Kindern im Unterricht integriert werden, klinge das gut.

Schulrat Karl-Josef Lenz vom Schulamt Brandenburg (Havel) erklärt derweil, dass die Initiative von den Eltern ausgehe: „Sie bevorzugen die inklusive Schule“, sagte Lenz gestern am Rande eines Pressetermins in Caputh. Aus seiner Sicht sind Förderschulen Auslaufmodelle, in Kleinmachnow hätten sich die Schülerzahlen in den vergangenen Jahren halbiert. „Wir befinden uns in einer Übergangsphase vom einen zum anderen Modell.“ Allein in diesem Schuljahr seien 18 Sonderpädagogen eingestellt worden, die bei der Integration behinderter Schüler in Regelschulen helfen sollen. Mit 28 Grundschulen im Schulamtsbezirk seien Verträge für die „inklusive Schule“ geschlossen worden. Sie bekämen dafür zusätzliche Lehrerwochenstunden – bei dreizügigen Schulen 66. Lenz sprach von einer „verlässlichen Ausstattung“.

Für Heidrun Meinshausen gehen solche Zahlenspielereien angesichts der massiven Arbeitsbelastung von Lehrern an der Realität vorbei. Sie kennt aus ihrer langen beruflichen Erfahrung etliche Fälle von geistig behinderten Kindern, die an der Integration gescheitert sind – in Grundschulen kommen sie ab der vierten Klasse mit anderen Kindern meist nicht mehr mit, an größeren Förderschulen gingen sie in überfüllten Klassen unter. „Die Kinder hatten nur Misserfolge, wurden durchgezogen“, sagt Meinshausen. Kamen sie an die Albert-Schweitzer-Schule blühten sie auf. Hier wird neben dem Unterricht gemeinsam gekocht, im Wald gearbeitet oder im Supermarkt eingekauft. „Die Kinder unserer Schule sind die Schwächsten, die wir in der Gesellschaft haben“, sagt Meinshausen. Nur fehle ihnen offensichtlich die Lobby bei Kreis- und Schulamt.

Dort wiegelte man ab: „Wir stehen grundsätzlich zu der Schule“, sagte André Hohmann, Chef des Kreis-Schulmanagements. Allerdings wisse man nicht, wie es angesichts geringer Schülerzahlen weitergehen soll. Hohmann wies die Vorwürfe zurück, man wolle die Schule loswerden, um die wertvolle Immobilie zu verkaufen. „Bei den Schülerzahlen ist eine Grenze erreicht.“ Unter 30 Kindern sei die Schule nicht zu halten. Ein weiteres Schuljahr stellte Hohmann nicht in Aussicht.

Carmen Marquis hat Angst. „Ricardo würde es nicht verstehen, wenn er nicht mehr dorthin darf, wo er sich jetzt wohl fühlt“, sagt sie. Deshalb will sie für den Erhalt der Schule kämpfen, wie so viele andere Eltern.(mit hkx)