PNN 19.11.09
Von Tobias Reichelt
Region Teltow - Jagdpächter Hans Diwiszek fehlen die Worte: „Wenn ich das
sehe“, sagt er und holt zu einer längeren Rede aus. Doch dann macht der
82-Jährige eine Pause und schüttelt den Kopf. Was er in 45 Filmminuten gesehen
hat, hat ihm die Sprache verschlagen: Menschen, die Wildschweine im Wald mit
trockenen Nudeln füttern. Tierliebhaber, die Sauen streicheln und
fotografieren. Frischlinge, die im Alter von neun Monaten geschlechtsreif sind
und Keiler, die selbst vor einem See nicht zurückschrecken, um an die Krokusse
im dahinter liegenden Garten zu gelangen. Sie schwimmen einfach durch.
Knapp ein halbes Jahr haben sich die Berliner Filmemacher Harriet Kloss und
Markus Thöß mit der Wildschweinproblematik Berlins und seinen beiden
Umlandgemeinden Kleinmachnow und Stahnsdorf beschäftigt. Gemeinsam mit dem
Wildtierbeauftragten des Berliner Senats haben sie schweinische Schandtaten
aufgedeckt, frustrierte Gartenbesitzer interviewt, mit Jagdpächter Diwiszek
gesprochen und sich mit einem Kleinmachnower Jäger auf die Pirsch gemacht. Am
Mittwochabend feierte der Film „Hauptstadt der Wildschweine – Berlin“
Publikums-Premiere im Kinder- und Jugendbetreuungshaus in Zehlendorf. Am
nächsten Freitag, dem 27. November, soll die Dokumentation um 21 Uhr im RBB
gezeigt werden.
„Ich habe Bilder gejagt, die Jäger Wildschweine“, sagt Filmautor Markus Thöß.
Stundenlang, teilweise bis tief in die Nacht habe er die Waidmänner begleitet.
„Die Jagd war nicht ganz ungefährlich“, sagt Thöß, und leicht war sie auch
nicht. Insgesamt siebenmal ging Thöß auf die Pirsch – Schweine gab es genug zu
sehen, nur schießen konnte man sie nicht. „Sie können sich gar nicht
vorstellen, wie schwer das ist, einen Schuss zu machen.“ Ein Jäger könne nicht
wahllos in eine Rotte hineinschießen. Werde die Leitbache erlegt, irrten
sämtliche andere Schweine wild umher. Der Schaden wäre immens. Obwohl der im
Film gezeigte Kleinmachnower Jäger Peter Hemmerden mehrere Male anlegt,
abgedrückt hat er nicht. „Es wird aber auch geschossen im Film“, sagt Thöß.
Gezeigt werden Archivbilder einer Treibjagd.
„Wir haben zum ersten Mal einen Film über Tiere gedreht“, sagte Koautorin
Harriet Kloss. Die beiden Filmemacher arbeiten seit zehn Jahren zusammen.
Bisher entstanden investigative, kritische Filme, sagt Kloss, zum Beispiel über
traumatisierte Bundeswehrsoldaten. Die Arbeit mit den Wildtieren hätte sich deutlich
unterschieden. Die Filmemacher haben allerdings den politischen Aspekt, den
Unmut der Anwohner und den Ärger der Rathäuser mit den Tieren bewusst in den
Hintergrund gestellt. „Wir wollen zeigen, wie die Tiere in der Stadt leben, wo
sie herkommen, warum es so viele sind und wie man sich verhalten soll, wenn man
sie trifft“, sagt Kloss.
Auch wenn es für die Filmemacher nicht leicht war, haben sie zum Teil
aufregende Bilder und Geschichten gesammelt. Vor allem die Zahl der gezeigten
Tiere ist beunruhigend: Wildschweine in Berlin werden immer früher
geschlechtsreif. Noch im Frischlingsalter können sie Nachwuchs bekommen.
Bleiben die Winter warm, kann sich der Bestand innerhalb eines Jahres
verdreifachen.
Antworten, wie mit dem Wildschweinproblem umgegangen werden muss, gibt es im
Film nicht. „In Berlin ist die Situation eskaliert“, sagt Filmemacher Thöß. In
Kleinmachnow und Stahnsdorf sei zumindest ein Konzept zu erkennen, so seine
Einschätzung nach der aufwändigen Recherche. Thöß’ Fazit: Die Menschen haben
die Wildschweinplage selbst zu verantworten. Mit immer neuen Eigenheimen
rückten die Siedlungen näher an den Lebensraum der Wildschtiere heran. Anwohner
entsorgen ihren Kompost im Wald, locken so die Schweine an. „Manch einer hat
fünf Flachbildfernseher im Haus, aber kein Geld, um sich einen festen Zaun zu
kaufen“, mahnt Filmemacher Thöß.
Auch für den erfahrenen Jagdpächter Hans Diwiszek ist die Sache klar: „Wo soll
das Wild hin? Es nimmt sich doch nicht das Leben“, sagt er im Film.