PNN 14.08.09
Von Tobias Reichelt
Kleinmachnow - Es sind die letzten Worte, die Walter Kittel auf seiner
Flucht hört: „Ich habe mir geschworen, hier kommt keiner mehr lebend raus!“
Wenige Augenblicke später ist der 22-Jährige tot, erschossen von dem
DDR-Soldaten, der ihn anschrie. Auge in Auge mit seinem Mörder starb Kittel mit
dem Rücken zur Grenze in der Nähe des Gartengrundstücks An der Stammbahn 53 in
Kleinmachnow. Er und sein Fluchtbegleiter hatten sich bereits ergeben. Dennoch
wurde Kittel in der Nacht des 18.Oktober 1965 mit 30 Schüssen in Brust und
Bauch getötet.
Seit gestern, 48 Jahre nach dem Beginn des Mauerbaus in Berlin, findet sich
Walter Kittels Name als einer von vier in Kleinmachnow getöteten
DDR-Flüchtlingen auf einer Gedenkstele auf dem Adam-Kuckhoff-Platz wieder. In
einer feierlichen Zeremonie wurde die Stele eingeweiht. Anwohner und Politiker
aus Kleinmachnow und dem benachbarten Berlin gedachten der Menschen, die vom
Kleinmachnower Gebiet aus versuchten, die Grenze zu überqueren und das mit
ihrem Leben bezahlten.
„Ich gehöre zu den Menschen, die nicht vergessen können und vergessen wollen.
Es ist an uns zu zeigen, wozu das DDR-Regime fähig war“, sagte Landrat Wolfgang
Blasig (SPD) gestern Nachmittag im ehemaligen Grenzgebiet auf Kleinmachnower
Seite. Die zweieinhalb Meter hohe, schwarz glänzende Stahlstele des Berliner
Künstlers Oliver Störmer steht hier nur knapp einen halben Kilometer von dem
Ort entfernt, an dem der junge Walter Kittel starb.
Kurzentschlossen hatten sich Kittel und sein zwei Jahre jüngerer Begleiter
Eberhardt K. in der Nacht zum 18. Oktober 1965 aufgemacht, die Grenze zu
überwinden. Erst wenige Stunden zuvor hatten sich die beiden flüchtigen
Bekannten in der Gaststätte „Libelle“ in Teltow-Seehof getroffen. Sie kamen ins
Gespräch und stellten schnell eine Gemeinsamkeit fest: Fluchtpläne nach
West-Berlin. Gegen Mitternacht verließen sie die „Libelle“ und fuhren nach
Kleinmachnow, zu Kittels Wohnhaus nahe dem Grenzgebiet. Von einem Fenster aus
hatte Kittel seit langem die Grenze und ihre Bewacher beobachten können. Er
schlug vor, noch in derselben Nacht zu flüchten.
Gegen 2.45 Uhr werden die jungen Männer wenige Meter vor dem letzten Grenzzaun
entdeckt. Die Flucht ist gescheitert. Kittel und sein Begleiter ergeben sich,
doch es kommt zu einem Streit mit den Grenzsoldaten. Aus einer Entfernung von
nur 15 Metern wird Kittel vom Kommandeur der Grenzer erschossen.
Fluchtbegleiter Eberhardt K. überlebt verletzt. Der schießende Kommandeur wird
wenige Tage nach der Tat befördert, die beteiligten Soldaten erhielten eine
Uhr.
Neben Walter Kittel starben in der Zeit von 1961 bis 1989 mindestens drei
weitere DDR-Flüchtlinge auf Kleinmachnower Gebiet: Am 26.April 1963 der
19-jährige Peter Mädler beim Versuch, in der Nähe des Erlenwegs durch den
Teltowkanal zu schwimmen, am 16. Dezember 1966 der erst 17-jährige Karl-Heinz Kube
in der Nähe des Teltower Hafens und der 21-jährige Christian Buttkus auf der
Flucht mit seiner Verlobten. Buttkus starb am 4. März 1965 in der Nähe des
Stahnsdorfer Damms. Alle drei wurden erschossen.
Bislang, sagt Günter Käbelmann, Archivar des Kleinmachnower Heimatvereins, sind
diese vier Namen bestätigt. Vermutlich seien mehr Menschen bei der Flucht von
Kleinmachnow nach Berlin ermordet worden. Nach seinen Recherchen könnte die
Stele drei weitere Namen tragen: Den des 23-jährigen Gerd Fraßdorf, der bereits
am 13.Oktober 1950 am Stolper Weg starb, sowie Gerd Michael Frenk, gestorben am
22.12. 1977, und den des 27-jährigen Roland K.
Allerdings, so erklärte gestern Hans-Hermann Hertle, Leiter des
Maueropfer-Projekts des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam
(ZZF), sei über die drei Opfer bislang zu wenig bekannt. Zudem starb Fraßdorf
bereits vor dem Bau der Mauer. Hertle hat die Biographien der Maueropfer an der
Berliner Grenze für ein Buch gesammelt und auch die Gemeinde Kleinmachnow bei
der Auswahl der vier Namen für die Gedenkstele beraten. Würden sich Zeitzeugen
finden, die die Geschichte zu den Opfern vervollständigen können, soll die
Stele ergänzt werden. Nach den Forschungen Hertles starben an der Berliner
Mauer insgesamt mindestens 136 Menschen. 575 Verdachtsfälle haben die
Wissenschaftler geprüft.
Der Verdacht der West-Berliner Behörden, dass am 18. Oktober 1965 ein
Flüchtling in Kleinmachnow erschossen wurde, hat sich 1993 bestätigt: Auf
Grundlage des Strafgesetzbuches der DDR wurde der Mörder Walter Kittels, der
ehemalige Grenzkommandeur, vom Bundesgerichtshof zu zehn Jahren Haft
verurteilt.
Die vollständigen Biographien der Kleinmachnower Maueropfer sind in der ZZF
Dokumentation „Die Todesopfer an der Berliner Mauer“ nachzulesen. Im Internet
unter www.chronik-der-mauer.de
PNN 14.08.09
Beim der gestrigen Gedenken an die Opfer der Mauer in der
Gedenkstätte Lindenstraße 54 stellte Claus Peter Ladner von der gleichnamigen Fördergemeinschaft
das Schicksal des an der deutsch-deutschen Grenze 1966 getöteten 17-jährigen
Karl-Heinz Kube vor. Erforscht und aufgeschrieben hat es Dr. Hans-Hermann Hertle
vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). Hier Auszüge aus seinem
Bericht, veröffentlich im Internet unter www.chronik-der-mauer.de:
„,Ihr Sohn hat sich provokatorisch an einem Grenzdurchbruch beteiligt, wurde
dabei verletzt und ist seinen Verletzungen erlegen.’ Wie ein Schlag treffen
Helmut und Martha Kube diese Worte kurz vor dem Weihnachtsfest 1966. Sie fallen
auf dem Volkspolizeirevier in Kleinmachnow.
Karl-Heinz Kube, geboren am
10. April 1949, wächst mit seinen vier Geschwistern im südlich von Berlin
gelegenen Ruhlsdorf bei Teltow auf. Nach dem Besuch der Schule in Stahnsdorf
arbeitet er ab November 1964 im VEB Industriewerk Ludwigsfelde. Seit April 1966
ist er dort als Elektrokarrenfahrer beschäftigt.
Karl-Heinz Kube ist 17
Jahre alt, als er im Herbst 1966 zusammen mit seinem 18-jährigen Freund Detlev
S. beginnt, Pläne für eine Flucht nach West-Berlin zu schmieden.
Schließlich einigen sie sich, die Flucht im Raum Kleinmachnow zu versuchen.
In den Abendstunden des 16. Dezember 1966 fahren die beiden Jugendlichen
mit einem Motorroller Marke ,Berlin’ von Ruhlsdorf in das Grenzgebiet am
Erlenweg in Kleinmachnow, in der Nähe des Teltower Hafens.
Karl-Heinz Kube
hat im Potsdamer Konsum-Kaufhaus zwei Seitenschneider für die Flucht besorgt,
um Drahthindernisse beseitigen zu können. Es gelingt den beiden jungen Männern,
eine erste Mauer, Stolperdrähte und eine Stacheldrahtsperre zu überwinden und
in den zwölf bis 15 Meter breiten Todesstreifen vorzudringen. Gegen 21.45 Uhr,
als sie einen Sperrgraben erreicht haben, – und sie nur noch ein letztes
Sperrelement, ein etwa zwei- bis zweieinhalb Meter hoher Eisengeflechtzaun, von
West-Berlin trennt –, werden sie von Grenzsoldaten bemerkt und unter Beschuss
genommen. Die Beiden geben das Fluchtvorhaben auf und retten sich in einen
Graben, der ihnen zugleich Deckung und die Möglichkeit des Rückzugs verspricht.
Doch ihre Flucht vor dem einen treibt sie in das Schussfeld eines zweiten
Postenpaares, das Dauerfeuer eröffnet. Beide Flüchtlinge laufen in dem Graben
mehrfach hin und her, um den Schüssen zu entgehen. Doch Karl-Heinz Kube wird
von zwei Kugeln in den Kopf und in die Brust tödlich getroffen. Detlev S. wird
unverletzt festgenommen und in das Stasi-Untersuchungsgefängnis in Potsdam
eingeliefert.
Die vier Grenzsoldaten, die zusammen 40 Schüsse auf Karl-Heinz Kube und
Detlev S. abgegeben haben, werden am 31. Dezember 1966 mit der ,Medaille für
vorbildlichen Grenzdienst’ beziehungsweise mit dem ,Leistungsabzeichen der
Grenztruppen’ dekoriert und an ein kaltes Buffet gebeten.“ gb