PNN 13.07.09

 

Tafel der Generationen

Kleinmachnower Jugendliche sammelten 150 Geschichten, die das Leben schrieb (13.07.09)

Kleinmachnow – Was für die heute nachwachsende Generation unvorstellbar klingt, war für die Betroffenen bis zum 9. November 1989 eine tragische Situation. Dass es hinter der Mauer noch Drahtzaun und Grenzgebiet gab und in diesem Vormauerland auch Leute wohnten, erfuhr die 15-jährige Marie Stieper von der Freien Waldorfschule Kleinmachnow jetzt als Teilnehmerin des Projektes „Jung und Alt“ , dessen Ergebnisse am Samstag auf dem Kleinmachnower Rathausmarkt vorgestellt wurden. Mit einem Katalog persönlicher Fragen waren 90 Jugendliche der 9. und 10. Klassen der Maxim-Gorki-Gesamtschule und der Freien Waldorfschule Kleinmachnow in den vergangenen Monaten ins Gespräch mit älteren Einwohnern gekommen und hatten deren persönliche Lebenserinnerungen gesammelt.

Marie Stieper schrieb auf, was ihr eine Kleinmachnowerin erzählte, die einst ihre Freundin ohne Genehmigung im Sperrgebiet am Erlenweg besuchte. Auf abenteuerlichen Wegen und mit Herzklopfen gelangte die junge Frau im Trabbi der Freundin zu mitternächtlicher Stunde in deren Heim. Kurz zuvor hatten die Grenzer ihren letzten Kontrollgang absolviert, und die Posten am Eingang bekamen nicht mit, dass sich da jemand im Trabbi wegduckte. Im Haus wurden anschließend alle Gardinen zugezogen, ehe sie das illegale Zusammensein feiern konnten.

Aus insgesamt 150 persönlichen Geschichten wurde eine Chronik, die am Samstag dem Kleinmachnower Heimatverein sowie dem Schirmherrn und Bürgermeister Michael Grubert (SPD) feierlich auf dem Rathausplatz überreicht wurde. Dort hatten fleißige Helfer die erste „Lange Tafel Kleinmachnows“ aufgebaut, an der Jung und Alt ihre Gespräche bei einem großen Spaghettiessen fortsetzen konnten. Die rund 400 Teilnehmer hatten sich viel an der 200 Meter langen Tafel zu erzählen. Frank Nesemann, Projektinitiator und Lehrer an der Waldorfschule, hofft, dass damit auch Hürden in der alltäglichen Begegnung zwischen den Generationen überwunden werden. Erinnerungen aus Ost und West sollen den jungen Menschen zudem helfen, deutsche Geschichte zu verstehen.

„Zuvor war zum Beispiel das Thema Mauer graue Theorie und ein Geschichtskapitel, das für viele Jugendliche so weit entfernt war wie für uns die Kreuzzüge", sagte Nesamann. In den aufgeschriebenen Erinnerungen spielen aber auch der Zweite Weltkrieg, Gefangenschaft, der 17. Juni 1953 und der Alltag beiderseits der Grenze eine Rolle. Ein besonders einschneidendes Erlebnis war für Axel Mueller vom Kleinmachnower Heimatverein rückblickend der Besuch von Bundeskanzler Willy Brandt 1970 in Erfurt gewesen. Dieses Ereignis habe vielen Menschen in Ost und West gleichermaßen viel Hoffnung auf eine Annäherung gegeben.

An diese Hoffnung erinnerte auch Bürgermeister Grubert, der einst in Zehlendorf lebte. Lange Zeit habe er jedoch einen Mauerfall für unvorstellbar gehalten. Bis zu jener Nacht am 9. November 1989, als er im Fernsehen Ströme von Menschen sah und am nächsten Tag mit seinen Kollegen am Kudamm stand, um sich das freudige Spektakel nicht entgehen zu lassen. Auch am Samstag gab es viele strahlende Gesichter, und Heimatvereinschef Rudolf Mach wünschte sich, dass die Aktion keine Eintagsfliege bleiben möge und im Ort der Dialog der Generationen fortgesetzt wird. Die Kleinmachnower Aktion soll, so Nesemann, nur der Auftakt einer ganzen Reihe „Langer Tafeln“ im Land Brandenburg sein. Kirsten Graulich