PNN 03.03.09
Kleinmachnow - Kleinmachnows SPD geht auf Distanz zu ihrem
Parteifreund Klaus Nitzsche. Er solle die aktuellen Stasi-Vorwürfe selbst
bewerten und Konsequenzen ziehen, erklärte gestern SPD-Ortschef Joachim
Schossau. „Der Vorsitzende der Gemeindevertretung vertritt nicht nur alle
gewählten Gemeindevertreter, sondern ist auch ein hoher Repräsentant der
Gemeinde. Diese Position kann nur eine Persönlichkeit mit einwandfreiem
politischen Leumund bekleiden.“ Eine frühere Stasi-Tätigkeit – insbesondere
konspirativ gegen Mitbürger – sei für die SPD Kleinmachnow nicht mit diesem
politischen Amt vereinbar.
SPD-Fraktionschefin Susanne Krause-Hinrichs bekräftigte: „Wenn die neuerlichen
Vorwürfe zutreffen, sollte Klaus Nitzsche nicht weiter Vorsitzender sein. Ich
hoffe, dass er das auch so sieht.“ Sie wolle so schnell wie möglich Einsicht in
Nitzsches Stasi-Akten nehmen. Die SPD-Fraktion habe Nitzsche im Herbst weder
für den Vorsitz der Gemeindevertretung vorgeschlagen noch ihn gewählt, heißt es
in einer Pressemitteilung der SPD. „Jetzt sind die Vertreter der FDP gefordert,
die ihm – vermutlich aus falsch verstandener Liberalität – dieses Amt
angetragen und ihn mit den anderen kleinen Gruppierungen zum Vorsitzenden
gewählt haben.“
FDP–Fraktionschefin Kornelia Kimpfel zeigte sich gegenüber den PNN
vorsichtiger: „Ich kann die Aufregung nicht verstehen.“ Ihr sei die Faktenlage
zu dünn. Nur wenn es tatsächlich neue Erkenntnisse geben sollte, „ist Klaus
Nitzsche nicht mehr tragbar.“ Gemeinsam mit der FDP hatte auch WIR-Chef Frank
Musiol Klaus Nitzsche in das Amt des Vorsitzenden der Gemeindevertretung
gewählt. Seine Wählergruppe möchte jedoch kein vorschnelles Urteil fällen,
erklärte Musiol. „Wir geben momentan kein Statement ab. Wir wollen niemanden
vorverurteilen.“ Eine unabhängige Kommission müsse die neuen Vorwürfe prüfen.
Dass es neue Erkenntnisse seit der vorerst letzten Überprüfung Nitzsches im
Jahr 2007 geben muss, davon ist FDP-Bürgermeisterkandidat Wolfgang Jordan (FDP)
überzeugt. Jordan, bis 2005 noch CDU-Mitglied, war an beiden
Nitzsche-Prüfkommissionen in Gemeinde und Kreis beteiligt. Die neuesten Akten
weisen eine Stärke von rund 450 Seiten auf. Überprüft hätten Kommissionen jedoch
deutlich weniger, nur rund 200 bis 250 Seiten, erklärte Jordan gestern. Er rate
Nitzsche deshalb zum sofortigen Rücktritt. Auch Felix Enneking (CDU), der
beiden Prüfkommission vorsaß, bestätigte: „Die Akte war dick, aber nicht so
dick.“ So sieht sich auch Kleinmachnows CDU-Fraktionschef Bernd Krüger
bestätigt: „Es ist das Mindeste, dass Herr Nitzsche in die zweite Reihe rückt.“
Die Aufklärung der Vorwürfe in der Gemeindevertretung könne nur ohne Nitzsche
geschehen. Deshalb forderte Krüger Nitzsche auf, sein Amt zumindest ruhen zu
lassen. „Das Schlimme ist die Unwahrheit, dass er behauptet hat, nie IM gewesen
zu sein. Aber das war er ganz klar: Er hat einen Decknamen und eine Akte“,
sagte Krüger. Tobias Reichelt
HINTERGRUND
Dass er von der Staatssicherheit als „IM Gerd“ geführt wurde,
bestreitet Klaus Nitzsche, 66, nicht. Dafür aber, dass er sich dem MfS
gegenüber als IM verpflichtet hat. Er beruft sich auf seine handschriftlich
verfasste Verpflichtungserklärung, in der es nur um die Bekämpfung
imperialistischer Kräfte gehe. Die Erklärung hat er am 12.07.1978 ge- und
unterschrieben. Vorausgegangen waren Kontakte zu einem US-amerikanischen
Forscher in Leningrad, wo der Materialforscher Nitzsche forschte und studierte.
Der Amerikaner war von den Russen als CIA- Mann eingestuft worden. Nitzsche
berichtete über Kontakte zu ihm. Nach Nitzsches Rückkehr nach Kleinmachnow 1979
meldete sich der US-Amerikaner noch zweimal bei ihm, zu angekündigten Treffen
1979 und 1980 kam es nicht. Nitzsche traf sich nach seiner Leningrader Zeit
regelmäßig mit einem Major der Spionageabwehr des MfS, erhielt auch Geld –
einmal etwa 500 DDR- Mark. Auf Fragen des MfS zu Bekannten antwortete er kurz,
aber durchaus einschätzend. Immer wieder wandte er sich laut Akte hilfesuchend
an das MfS – bei beruflichen und bei Problemen mit seinem Haus. Wegen der
stockenden Karriere Nitzsches ließ das Interesse des MfS nach.
Ursprünglich war geplant, ihn von der Spionageabwehr an den Stasi-Bereich
Sicherung der Volkswirtschaft zu übergebenen. Auch das ließ man. 1988 wurde
„Gerd“ archiviert. pet
Herr Nitzsche, ist es nicht an der Zeit, mit einer Lebens- oder zumindest
mit einer Nach-Wende-Lüge aufzuhören und die ganze Wahrheit zu sagen?
Also, da sehe ich überhaupt nicht so, weil ich natürlich mit dieser Frage
über Jahre herumgetragen habe. Inzwischen bin ich in Rente und glaube, jetzt
diese Akte entsprechend bewerten zu können und sehe nichts in dieser Akte, was
mich belasten könnte.
Sie haben nach der Wende mehrfach erklärt – unter anderem 1993 in einem
Interview mit den PNN: Ich war kein IM. Das war doch ganz klar gelogen.
Das war keine Lüge, das ist die Frage, wie Sie einen IM definieren.
Das ist ganz einfach: Ein IM ist ein inoffizieller Mitarbeiter der
Staatssicherheit, der eine Verpflichtungserklärung als IM unterschrieben hat.
Ich habe, das ist wichtig, während meines Auslandaufenthaltes in Leningrad nach
Kontakt mit einem US-Amerikaner 1978 eine Erklärung unterschrieben zur Abwehr
imperialistischer Geheimdienste.
Sie haben eine IM-Erklärung unterschrieben.
Das stimmt so nicht.
Die ist den Akten drin, Sie haben sie handschriftlich verfasst, Sie haben sich
sogar noch bei den Stasi-Mitarbeitern ausbedungen, über den Text der Erklärung
nachdenken zu können und haben sogar noch Änderungen an dem vom MfS
vorgeschlagenen Textentwurf vorgenommen.
Das ist richtig. Aber ich habe mich nicht zu irgendwelchen Tätigkeiten für das
MfS bereit erklärt, sondern zu Tätigkeiten zur Abwehr imperialistischer
Geheimdienste.
Aber Herr Nitzsche, in den Akten steht wörtlich – und die Formulierung haben
Sie sogar noch selbst gewählt –, wonach Sie sich verpflichten, „vom MfS
übernommene Aufträge gewissenhaft zu erfüllen“.
Das ist richtig.
Darin sehen Sie keine Tätigkeit als IM?
So ist es.
Nun kann ja über die Bewertung der Spionageabwehrarbeit oder der
Auslandsspionage. Aber: dabei ist es ja nicht geblieben, Sie haben auch nach
ihrer Leningrader Zeit in Kleinmachnow weiter mit dem MfS gesprochen. Zunächst,
weil sich der Amerikaner, um den es in Leningrad ging, bei ihnen wieder
gemeldet hat – das war zunächst 1979 und dann 1980 nochmal. Sie haben – zwar,
wie die Stasi notierte – schweren Herzens, aber letztlich doch – über den Joliot-Curie-Klub
in Kleinmachnow berichtet und Sie haben – und das ist nun wirklich auffällig –
immer wieder den eigenen Vorteil gesucht.
Wenn Sie das mit dem eigenen Vorteil so darstellen wollen
Ja.
dann mag das so sein. Sie müssen nur eins wissen: Das MfS hat wie jeder
Geheimdienst gearbeitet und für die Gewinnung von Mitarbeitern drei Kategorien:
a: ideologische Überzeugung, b: materielle Interessiertheit und c:
Erpressbarkeit.
Und Sie fielen unter b?
Ja.
Sie begründen ihre Tätigkeit also mit Ihrem materiellen Interesse?
Nein. Ich hatte mir eine Legende für das MfS zurechtgelegt, die auf materielle
Interessiertheit angelegt war.
Ihnen war also klar, dass Sie mit dem DDR-Geheimdienst reden?
Ja, selbstverständlich.
Das geht aus den Akten auch hervor. Nach der Leningrader-Zeit haben Sie aber
nicht nur über wieder auflebende Kontakte zu dem US-Amerikaner berichtet,
sondern auch über Leute aus Kleinmachnow und andere West-Kontakte
Moment mal: Das ist Dichtung, die mit der Wahrheit nichts zu tun hat.
Warum haben Sie direkt nach der Wende oder 1993 nicht einfach offen
gesagt: Ja, das war eine schwierige Lage, ich war im Ausland, habe in einem
sensiblen Bereich gearbeitet und auch geforscht und natürlich musste man dort
mit dem MfS zusammenarbeiten?
Wo denn, wo hätte ich das denn sagen sollen?
In der SPD, in der Gemeindevertretung, gegenüber den Medien
Na, jetzt hören Sie doch mal zu: Genau das habe ich doch gemacht.
Bei wem denn?
Das ist alles in den SPD-Akten von Kleinmachnow nachzulesen. Ich stand ja schon
1990 in Kleinmachnow in der SPD zur Diskussion als Bürgermeister-Kandidat. Da
habe ich gesagt, dass ich Kontakte zum Geheimdienst in Leningrad hatte. Und das
haben dann Mitglieder aus der SPD nach außen getragen.
Aber warum sind Sie in dieser Situation auf halben Weg, bei der halben Wahrheit
stehen geblieben? Warum haben sie nicht gesagt, dass Sie auch nach der Zeit in
Leningrad weiterhin Kontakte zum MfS hatten, als sie wieder in Kleinmachnow
lebten und arbeiteten?
Ja, das ist jetzt die Frage.
Ja, das ist hier die Frage.
Ja, aber da werte ich die Kontakte ganz anders als wahrscheinlich Sie. Ich bin
aus Leningrad zurückgekommen und hatte Interesse, mich von dieser Sache zu
verabschieden. Ich hatte aber in Leningrad den Auftrag bekommen, mich zu
melden, wenn ich wieder zu Hause bin. Das habe ich getan. Und das MfS hat mich
auch immer wieder darauf hingewiesen, dass ich Geheimnisträger bin.
Solange es um Spionageabwehr ging, mögen Sie das so begründen können. Aber
warum haben Sie mit dem MfS Gespräche über Leute aus Kleinmachnow geführt und
darüber später geschwiegen?
Moment mal, jetzt müssen Sie natürlich erst einmal erkennen, dass es immer
unangenehm ist, wenn Sie über jemanden anderen etwas sagen und wenn Sie über
andere Leute befragt werden. Und diese Gespräche liefen immer ziemlich locker
ab, da wurde ein Foto gezeigt und gefragt: Kennst Du den? Dann habe ich
wahrheitsgemäß gesagt: Ja, den kenne ich. Und dann habe ich mich – und ich
hoffe, das geht aus den Akten auch hervor – nicht bereiterklärt, über diese
Leute irgendetwas aufzuschreiben.
So klar steht das da nicht drin.
Also, jetzt mal zur Ausgestaltung der Akten: Das, was da zu den Befragungen
drinsteht ist zu 90 Prozent nicht von mir, das ist frei erfunden.
Herr Nitzsche, die Stasi hat eingeschätzt, dass Sie dort den eigen Vorteil
gesucht haben – Zitat: „berechnend, spielerisch, kaltschnäuzig“. Und Sie haben
das ja auch rege getan. In den Akten ist festgehalten, dass Sie versucht haben,
über das MfS Einfluss auf einen eventuellen Forschungsaufenthalt in den USA zu
nehmen, später auf einen Aufenthalt in Vietnam, dann darauf, dass sie von ihrer
Arbeitsstelle im Halbleiterkombinat in Teltow an die Humboldt Universität
Berlin kommen. Und dann haben sie das ja auch bei ihrem Haus in Kleinmachnow
versucht.
Ach, das ist doch Quatsch, totaler Quatsch!
Wie kam denn das MfS darauf?
Das frage ich mich auch. Und zu dem Haus, das regt mich so furchtbar auf! Da
sind mir in Kleinmachnow solche Steine in den Weg gelegt worden. 1977 habe ich
es gekauft und erst 1983 konnte ich es beziehen.
Also laut Akte hatten Sie das Haus entgegen der Baugenehmigung umgebaut – aus
einem Zweifamilienhaus unerlaubt ein Einfamilienhaus gemacht.
Das stimmt.
Noch einmal die Frage: War es aus heutiger Sicht ein Fehler, nach
der Wende nur mit der halben Wahrheit rauszurücken?
Nein, denn die Stasi hat mir mit ihren Akten eine Unmenge Schmutz angehängt.
Und damit kann ich mich jetzt, als einigermaßen erholter Rentner,
auseinandersetzten. Und dafür halte ich mich ein wenig für einen Robin Hood.
Ich hätte 1993 so eine Diskussion nie austragen können.
Aber nach sieben Jahren meinten Sie dann im Jahr 2000, Sie könnten
Bürgermeister in Stahnsdorf werden – denn dafür wollten Sie kandidieren.
Was hatte sich geändert?
Zu diesem Zeitpunkt sah ich die Chance, dass man sich so auseinandersetzen
kann, wie wir das jetzt hier tun. Meine persönliche Position, war eine ganz
andere, ich hatte im Beruf mein Einkommen
Sie hatten also nach der Wende Angst, dass Sie mit der Akte keine Karriere
machen können
Das ist doch dummes Gequatsche, das empfinde ich als ausgesprochen bösartig!
Ich war ab 1990 in Kleinmachnow Bürgermeister und das aus Überzeugung, bis zu
der Erkenntnis, dass ich es aufgrund der Vorwürfe nicht mehr sein kann.
Noch einmal: Warum haben Sie nicht erzählt, dass es mit dem MfS auch zu
Gesprächen in der DDR, über Angelegenheiten und Menschen der DDR kam, warum
keine eindeutige Aussage?
Warum sollte ich? Ich habe doch nie die Unwahrheit gesagt.
Aber auch nie die ganze Wahrheit.
Das können Sie so sehen. Aber ich war nicht bereit, über diesen Schmutz und
diese Lügen zu reden.
War das ein Fehler?
Nein, das war kein Fehler.
Sehen Sie Anlass, von Ihren politischen Ämtern zurückzutreten?
Nein.
Kann es sein, dass Sie ihre eigene Wahrheit bei der Sicht auf die Dinge haben?
Natürlich!
Das Gespräch führten Peter Könnicke und Peter Tiede