Potsdamer Neueste Nachrichten 13.08.07
28 Jahre stand die Mauer zwischen Potsdam und
West-Berlin. Sie forderte mehr als 20 Tote. Heute erinnert daran kaum noch
etwas. Die Anlagen sind abgebaut, Zeitzeugnisse verschwunden. Vergessen wird
das Geschehene nicht. Aber manchmal verfälscht, sagt die Leiterin der Potsdamer
Birthler-Behörde
Von Jan Brunzlow
Nichts erinnert in
Potsdam mehr an eine Brücke aus Stacheldraht an der Babelsberger Enge, an 30
Meter breite Grenzkorridore und überhaupt an 28 Jahre Mauer. Wo einst Menschen
versuchten, nachdem sie Stacheldraht und Todesstreifen überwunden hatten, die
Havel zu überqueren und dabei ertranken, wird heute gebadet und gesegelt.
Selbst die sechs Potsdamer Originalteile der einst 161 Kilometer Mauer rund um
Berlin in der Stubenrauchstraße sind 18 Jahre nach dem Mauerfall vom Wasser aus
nicht mehr zu sehen. Kolonnenwege sind touristische Wege, Grenzstreifen
Naturschutzgebiete. Es wirkt, als ob es nie eine innerdeutsche Grenze, nie
versuchte Fluchten und nie einen Einsatz von Waffen gegen DDR-Bürger gegeben
hätte.
Wie es vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 zwischen Potsdam und Berlin
aussah, beschrieben Gisela Rüdiger und Manfred Kruczek am Samstag 75
PNN-Lesern. Aus Anlass des Mauerbaus vor 46 Jahren hatten die PNN zu der
„Grenztour“ eingeladen. Die Leiterin der Außenstelle der Bundesbeauftragten für
Stasi-Unterlagen sowie der DDR-Bürgerrechtler erinnerten mit Berichten und
anhand gesammelter Unterlagen an die Zeit des „Antifaschistischen Schutzwalls“.
Dessen Schreckensbilanz: 3926 hauptamtliche Mitarbeiter zählte die
Staatssicherheit 1989 im Bezirk Potsdam, weitere 9633 inoffiziellen
Mitarbeiter. Es gab mehr als 20 Mauertote im heutigen Stadtgebiet und in
Teltow/Kleinmachnow, sechs Grenzübergangsstellen, drei Agentenaustausche auf
der Glienicker Brücke und hunderte gescheiterte Fluchten mit anschließender
Inhaftierung in der Lindenstraße 54. Nur zwei Potsdamer hatten eine
Sondergenehmigung für das Befahren der Grenzgewässer, sagte Manfred Kruczek.
Darunter der Potsdamer Havel-Fischer Mario Weber. Er durfte zu bestimmten
Zeiten die Babelsberger Enge passieren und vor der Heilandskirche angeln – weil
die Planvorgaben für die Fischerei allein in den Potsdamer Havelgewässern nicht
erreicht werden konnten. Fahrgastschiffe durften den Jungfern- und Griebnitzsee
damals nicht befahren.
Eine Zeit, aus der das Fahrgastschiff
der dreistündigen „Grenztour“ auf der Havel stammt: die MS Bellevue. Das Schiff
mit Platz für 75 Gäste unter Deck, den getönten Scheiben und den Holzeinbauten
wurde 1986 speziell für Gäste aus dem kapitalistischen Ausland gebaut, die im
Dresdener Hotel Bellevue, in dem damals nur mit Devisen bezahlt werden konnte,
übernachteten. Seit 1993 gehört es Wilfried Herzog und der gleichnamigen
Reederei aus Ketzin. Die Tour führte von der Babelsberger Enge, Glienicker
Brücke entlang des Jungfernsees nach Nedlitz, danach zur Sacrower Lanke und auf
den Griebnitzsee. Orte, zu denen alle der Reisenden ihre eigenen Erinnerungen
haben.
„An dem Tag habe ich unheimlich Glück gehabt“, sagte beispielsweise Wilfried
Schmeja. Er wohnte mit seiner Frau in der Mangerstraße, hatte eine eigene
Dunkelkammer zur Entwicklung von Fotos und besitzt dadurch heute ein große
Anzahl persönlicher Zeitdokumente. Mauerfotos. 500 Meter von der Glienicker
Brücke entfernt hat er an jenem Tag gestanden, als die Grenzsoldaten auf ihn
aufmerksam geworden sind. Fotos von der Brücke hatte er mit einem Teleobjektiv
gemacht. Streng verboten. Als die Grenzsoldaten ihn bemerkten, hat er
geistesgegenwärtig das Tele- gegen ein Weitwinkelobjektiv getauscht und sich
somit viele Unannehmlichkeiten erspart. „Nach langer Diskussion hat der Grenzer
selbst durchgeschaut und mir abgenommen, dass man mit dem Apparat keine Grenze
fotografieren konnte“, so Schmeja.
Andere hatten dagegen weniger Glück. Herbert Mende beispielsweise. Am 8. Juli
1962 hat der junge Mann im Jugendklub an der Glienicker Brücke, der heutigen
Villa Kampffmeyer, gefeiert. Er war nicht mehr nüchtern, mitten im Grenzgebiet,
wollte seinen Bus erreichen und geriet in eine Grenzkontrolle. Kurz darauf lief
Mende weiter, als er seinen Bus kommen sah – die Grenzer schossen aus 30 Metern
und trafen ihn lebensgefährlich. Sieben Jahre später starb Mende im Alter von
29 Jahren an den Folgen der Schüsse. Juristische wollte Mendes Vater den Fall
1990 aufrollen lassen. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, die Täter kamen
jedoch davon. „Es habe keine Tötungsabsicht nachgewiesen werden können“,
berichtete Gisela Rüdiger über diesen Fall. Die Leiterin der Außenstelle der Bundesbeauftragten
für Stasi-Unterlagen kennt viele der Opfer. Und auch viele der Täter. Zweimal
betont sie an diesem Nachmittag, dass immer wieder versucht werde, die
Geschichte zu verfälschen. Sie spricht von Schießbefehlen und von dem Potsdamer
Hans-Dieter Behrendt, der immer wieder öffentlich die Arbeit der
Passkontrolleure an der Grenze verteidige. „Auch Passkontrolleure haben
geschossen“, sagt Rüdiger. Und: „Hans-Dieter Behrendt ist für die Schikanen an
der Grenze verantwortlich.“ Behrendt war von 1965 bis August 1990 für den
Arbeitsbereich Passkontrolle an den Grenzübergangsstellen im Bezirk Potsdam
zuständig und war Oberstleutnant der Stasi.
Dass die Grenzer bis 1968 gänzlich ohne gesetzliche Grundlage an der Mauer
geschossen haben, erklärte Karl Alich auf der Tour. Der Rechtsanwalt, der die
Republikflucht versuchte und später von der Bundesregierung freigekauft wurde,
vertritt den Standpunkt, dass das Volkspolizeigesetz von 1968 die erste
gesetzliche Grundlage für Schüsse an der Mauer gewesen sei, auch wenn es vorher
schon Schießbefehle gegeben habe. Er selbst kann sich noch an die Zeit
erinnern, als die Grenzen dicht gemacht worden sind. Am ersten Schultag nach
den Ferien habe seine Lehrerin in der Dortuschule gesagt: „So, jetzt weht ein
anderer Wind. Jetzt ist die Grenze gesichert.“ Für Alich der Beginn einer
Tortur – bis 1972. Er, der sich als Junge nie traute, vom Zehn-Meter-Turm am
„Kap Horn“, der Badestelle im Neuen Garten, zu springen, versuchte einige Jahre
nach Grenzschließung die Flucht über Bulgarien nach Jugoslawien – auch wenn sie
scheiterte, er lebte.
Mehr als 20 Menschen starben dagegen an der Grenze im heutigen Gebiet Potsdam
und Teltow/Kleinmachnow. Erna Kelm, 54-jährig in der Havel ertrunken. Christian
Buttkus, erschossen in Kleinmachnow. Günter Wiedenhöft, ertrunken im
Griebnitzsee. Rainer Gneiser und Norbert Wolscht, ertrunken in der Havel.
Grenzsoldat Rolf Henniger und Horst Körner, erschossen in Klein Glienicke.
Reiner Liebeke, ertrunken im Sacrower See. Opfer, deren Geschichten an 28 Jahre
Mauer erinnern.
Gisela Rüdiger und Manfred Kruczek erzählten aber auch von geglückten Fluchten.
Beispielsweise aus dem Jahr 1988, als drei Männer mit einem W 50 die
Grenzanlagen der Glienicker Brücke durchbrachen – beschrieben von Hannelore
Strehlow im Buch „Der gefährliche Weg in die Freiheit“. Ein Sachbuch, Material
für einen Thriller. Sie steuerten in der Nacht zum 11. März auf die
Grenzanlagen zu und blieben erst auf der West-Berliner Seite stehen. Oder die
Flucht von Helmut Schimpfermann in Klein Glienicke. Am 15. Juni 1975, dem
ersten Tag des VIII. Parteitages der SED, flüchtete der damalige
Stadtverordnete und Redakteur der Brandenburgischen Neuesten Nachrichten mit
einer Leiter über die Mauer. Und die Flucht zweier Familien durch einen selbst
gegrabenen Tunnel in Klein Glienicke. 19 Meter lang war der dunkle Weg nach
West-Berlin, am 26. Juli schafften neun Potsdamer und Erfurter, darunter einige
Kinder, die Flucht in die Freiheit. Der Tunnel wurde Anfang dieses Jahres beim
Neubau eines Hauses ausgegraben, dokumentiert und teilweise abgerissen. Damit
verschwand eine weitere optische Erinnerung an den Mauerbau vor heute genau 46
Jahren.