Potsdamer Neueste Nachrichten 13.06.06
Lesen im Exil
Trägerverein für Kammerspiele will an "fremden" Orten bewusst machen, was
alle angeht
Von Peter Könnicke
Kleinmachnow - Der Name ist Programm.
„res publica“ heißt eine Reihe von Lesungen, zu denen der Trägerverein
„Kulturhaus Kammerspiele Kleinmachnow“ in den kommenden Wochen einlädt. „Eine
Sache der Öffentlichkeit“ soll auch die Zukunft der Kammerspiele werden – mehr
noch als in der Vergangenheit, in der das Bemühen um den Erhalt des
Traditionshauses als vitale Kulturstätte eher von Aktionismus als von
Nachhaltigkeit geprägt war.
Mit der Inszenierung des Enzensbergers-Stück „Titanic“ wollte der Trägerverein
im vergangenen Jahr seine Visitenkarte abgeben und nachweisen, wozu er in der
Lage ist. Nach der gelungenen Vorführung begab man sich in Wartestellung, denn
inzwischen war Kleinmachnows Bürgermeister Wolfgang Blasig vom Ortsparlament
beauftragt worden, mit dem Eigentümer der Kammerspiele Kaufverhandlungen
aufzunehmen. Die Fakten sind offenbar klar, die Fronten allerdings alles andere
als geklärt. Blasig machte den aus einem aktuellen Verkehrswertgutachten
ermittelten Preis dem Hauseigentümer Karl-Heinz Bornemann zum Angebot. Der
lehnte ab und verlangt dem Vernehmen nach einen gehörigen Zuschlag – sozusagen
eine ideelle Ablöse. Die Politik sieht sich in ihren Handlungsmöglichkeiten
beschränkt, weil eine Kommune nach gültigem Haushaltsrecht für eine Immobilie
nicht mehr als den Verkehrswert zahlen darf.
Der Trägerverein geht indes ins Exil.
„Galgenhumor“ nennt es deren Vorsitzende Ina Schott, wenn auf den
Transparenten, die für die Lesereihe werben, „KammerspieleXIL“ geschrieben
steht.
Die kritische Auseinandersetzung mit den Missständen der Zeit, die ein
wesentliches Merkmal der Exilliteratur ist, ist auch inhaltlicher Schwerpunkt
der Veranstaltungsreihe. Den Auftakt bildet am kommenden Samstag eine Lesung
der Texte von Robert Menasse. Der Wiener Schriftsteller und Philosoph hat im
vergangenen Jahr an der Frankfurter Universität eine Vorlesungsreihe unter der
Sammelüberschrift „Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung“ gehalten.
Im legendären Adorno-Hörsaal wurde „schon lange nicht mehr so wortgewaltig
gegen den Kapitalismus gewettert und zum Umsturz aufgerufen", schrieb die
Süddeutsche Zeitung, während die FAZ kritisierte, dass „oft genug Menasses
radikale Gedankenspiele auch einfach nur intellektuelle Zumutungen“ seien.
„Zeitkritische Texte“ kündigt Ina Schott für den 17. Juni an, die in der
Dorfkirche szenisch vorgetragen werden.
Im ehemaligen Musterhaus und Beratungszentrum des Bauunternehmens Kondor
Wessels nahe der Kleinmachnower Ortsmitte wird es „Briefe an den Reichtum“
geben – eine gelesene Installation. In den Briefen fragt unter anderem der
Soziologe Oskar Negt den ehemaligen Vorstandschef von Siemens, Friedrich von Pierer,
was sich in den letzten Jahren grundlegend geändert habe. Schließlich galten
einst die Gewinne von heute als die Investitionen und die Arbeitsplätze von
übermorgen. Negt fragt, ob diese Weisheit heute auf den Kopf gestellt sei und
die Gewinne von heute die Arbeitslosen von morgen seien? „Da wird die
Verantwortung einer der führenden deutschen Manager und die Situation von Hartz
IV-Empfängern gegenübergestellt“, so Ina Schott. „Wertfrei“, wie Gunnar Hille
vom Trägerverein ergänzt. „Es gibt keinen Aufruf zur Revolution, niemand wird
zum Buh-Mann gemacht. Es ist lediglich eine Anleitung zum Hinschauen.“ Der
Veranstaltungsort mit der „nüchternen, glatten Pracht“ des Vorzeige-Hauses von
Kondor Wessels diene als bewusster wie angemessener Rahmen.
Die dritte, derzeit fest stehende Lesung findet in dem alten Heizhaus auf dem
Seeberg statt. „Was ich hörte vom Irak im Jahre 2005“ ist eine Sammlung der
irreführenden und widersprüchlichen Beiträge der US-Regierung. Der
amerikanische Autor Eliot Weinberger hat Statements der US-Administration und
ihrer Verbündeten, Aussagen von Angehörigen der amerikanischen Streitkräfte
aber auch von Angehörigen der irakischen Zivilbevölkerung, Meldungen von
Berichterstattern zu einer Collage zusammengetragen. Er reiht die Aussagen
aneinander und dokumentiert auf diese Weise die Widersprüchlichkeit des
Irak-Krieges. Nachdem Weinbergers Textcollage schon in mehreren Theatern auf
die Bühne gebracht wurde, wird am 2. Juli auch eine Inszenierung in
Kleinmachnow zu erleben sein.
„Wir wollen mit der Reihe ein Augenmerk auf die Dinge lenken, die uns alle
angehen“, so Ina Schott. Das gelte im übertragende Sinn auch für die
Kammerspiele. Wo Ängste und Verwerfungen den Alltag bestimmen, Werte
ausverkauft werden, der Zustand der Demokratie kritisch betrachtet wird und
Diskussionen um die Gesellschaft geführt werden, ohne Antwort zu finden – da
„tut es gut, etwas geistige Nahrung zu bekommen“, befindet Schott. Die Texte
würden eine deutliche Sprache sprechen, „sie sind humorvoll und keineswegs verkleistert“.
Gerade in Kleinmachnow sei ein „ungemeines Potenzial“ zu spüren, Ansichten über
Politik und Gesellschaft vom Küchentisch in öffentliche Foren und auf Bühnen zu
tragen.
Mitwirkende bei den Lesungen sind Künstler und Regisseure wie Carmen Dalfogo,
Laszlo Kornitzer, Beát Nagy, Ronald Steckel, Rainer Strecker und Jan Uplegger.
„Da wir uns im Exil befinden, sind wir auf Hausherren angewiesen, die uns ihre
Türen öffnen“, sagt Ina Schott. Bislang zeigen sich die evangelische
Kirchengemeinde, die Berlin Brandenburg International School und Kondor Wessels
gastfreundlich. Für weitere Lesungen, die nach den Sommerferien geplant sind,
ist der Kammerspiele-Verein noch auf der Suche nach Domizilen.
Ein ewig Suchender will er indes nicht bleiben. Sollte es nicht gelingen, das
traditionsreiche Kulturhaus dauerhaft ins Bewusstsein einer breiten
Öffentlichkeit zu rücken, um so die notwendige Unterstützung für eine Zukunft
des Hauses unter Trägerschaft des Vereins zu erhalten, wird man sich nach einer
anderen Bleibe umsehen. Dass die Lesereihe durch den Europäischen Sozialfonds
finanziell unterstützt wird, sieht Ina Schott als Bestätigung, „mit unserem
Programm und der Initiative für die Kammerspiele anerkannt zu werden“.