Potsdamer Neueste Nachrichten 24.05.06
Theater, das die Augen öffnet
Theatergruppe der Steinweg-Schule brachte die Arbeiter, die den Teltowkanal
bauten, auf die Bühne
Kleinmachnow - Als Bürgermeister
Wolfgang Blasig noch vor Beginn des Stücks „Das Jahrhundertbauwerk“ hinter den
Kulissen verschwand, nahm kaum einer der rund 150 Zuschauer davon Notiz. Denn
die meisten Eltern und Großeltern, die am Montagabend zur Premiere in die
Steinwegschule kamen, waren zu aufgeregt und meist damit beschäftigt,
Fotoapparat und Videokamera startbereit zu halten. Um so überraschter waren sie
dann, dass der perfekt russisch sprechende Darsteller, der gleich in der ersten
Szene auftrat, dem Bürgermeister überaus ähnlich sah.
Wolfgang Blasig, in der Rolle eines Russen, der hoffte beim Kanalbau Arbeit zu
finden, war eine der gelungenen Überraschungen, die sich Regisseurin Fiorenza
Renn für die neueste Aufführung der Theatergruppe „Arlecchino“ ausgedacht
hatte. Dazu gehören auch die echten Requisiten und Kostüme aus Teltows
Heimatmuseum, ebenso die einfühlsame Musik von Vladimir Ivachkovets, die er
eigens für dieses Stück schrieb. Aber besonders die andere Sicht auf die
einstige Riesenbaustelle des Teltowkanals ist eine Herausforderung gegenüber
gängigen Klischees. Denn nicht den großen Namen, die bei der Eröffnung des
Teltowkanals vor 100 Jahren auf der Feierliste standen, wie Kaiser und Landrat,
erweist das Stück seine Referenz, sondern den vielen ungenannten Erdarbeitern,
die dem Kanal das Bett bereiteten.
Im Mittelpunkt steht die Teltower
Familie Scherinsky, deren Leben der Kanalbau veränderte. Vater Joachim und Sohn
Gustav sind dort beide als Erdarbeiter beschäftigt, haben aber jeweils
unterschiedliche Ansichten, wem der Ruhm des Bauwerkes zusteht. So wirft der
Vater dem Sohn vor, dass dessen sozialistische Begeisterung ihn so blind mache,
dass er die Leistungen solcher Leute wie die des Landrates Stubenrauch und
dessen Stellvertreters Badewitz nicht richtig schätzen würde. Doch der Sohn ist
wütend, weil des Vaters Rückenschmerzen auch daher rühren, dass der seinen
Buckel ständig vor den Edelleuten krumm mache. Gustav ist außerdem empört, dass
keiner der 10 000 Erdarbeiter zur Feier eingeladen wurde, obwohl doch gerade
sie es waren, die den Kanal schaufelten. In sechs Jahren hatten sie insgesamt
zwölf Millionen Kubikmeter Erde bewegt, eine Leistung, die auch zahlreiche
Opfer forderte, vor allem unter den Arbeitern aus Polen, Russland, Kroatien und
Italien.
Igor, gespielt von Gemeindevertreter Christian Grützmann, ist einer von ihnen.
Nicht mal ein Arbeitsbuch besitzt er und somit auch keine ärztliche
Versicherung. Als die Scherinskys ihn nach einem Arbeitsunfall mit nach Hause
nehmen, um ihm zu helfen, halten sie das vorsichtshalber vor dem Besucher
Gottfried von Badewitz geheim. „Denn man weiß ja nicht, wie er es aufnehmen
würde“, meint der Vater und lässt Igor in einen anderen Raum des Hauses
bringen. Badewitz, der Kämmerer des Landrates, hatte den Scherinskys wie vielen
anderen kleinen Leuten, das Grundstück abgekauft. Für die Scherinskys ein
Opfer, denn das eigentlich für den Bau vorgesehene Land war zu teuer geworden,
da Bodenspekulanten es zuvor aufgekauft hatten, um danach die Preise
hochzuschrauben.
Viele solcher historisch belegten Fakten hat Fiorenza Renn, die das Stück
schrieb, in die Handlung eingebaut und so eine reizvolle Geschichte aus dem
Alltag kleiner Leute erzählt, die durchaus auch als kleine Korrektur zum großen
100-jährigen Festrummel gedacht ist. So beglückwünschte am Ende des Stückes
auch Schulleiterin Brigitte Güllmar die mit viel Applaus bedachte engagierte
Theatergruppe: „Ihr habt uns die Augen geöffnet und wir haben viel von Euch
gelernt.“ Kirsten Graulich
Eine Szenenauswahl des Stücks ist zu den Kanal-Feierlichkeiten am 2. Juni um 17
Uhr an der Schleuse Kleinmachnow zu sehen