Potsdamer Neueste Nachrichten 15.12.05
"Gewisse Entscheidungsspanne"
Kritik an Schulranking in Brandenburg: Michendorfs Gymnasium sieht
Wettbewerb verzerrt
Von Andrea Röder
Michendorf - In allen sechs
Brandenburger Schulamtsbezirken wird derzeit die Durchführung des
Zentralabiturs 2005 ausgewertet. Bis auf „ein paar Kleinigkeiten zum Verfahren“
seien die Rückmeldungen der Schulleiter und Fachausschüsse „durchweg positiv“,
erklärte der Schulaufsichtsreferent im Bildungsministerium (MBJS), Ulrich
Ernst, auf Anfrage. Der Schulleiter des Michendorfer Wolkenberg-Gymnasiums,
Henrik Reinkensmeier, bildet demnach eine Ausnahme: Er kritisiert die
dezentrale Korrektur der Prüfungen, weil sie die vom Ministerium
veröffentlichte Rangliste „verzerren“ könne.
In 166 brandenburgischen Schulen wurden im Frühsommer erstmals zentrale, also
vom Ministerium vorgegebene Abiturprüfungen geschrieben. Korrigiert wurden die
Arbeiten allerdings dezentral, von den Schulen selbst. Anhand der übermittelten
Notenstatistiken errechnete das MBJS dann die Gesamtdurchschnittsnoten aller
Schulen und gab Ende Juli eine Liste der 10 Bestplatzierten bekannt (PNN
berichteten).
Aus dem Kreis Potsdam-Mittelmark
landete u.a. das Sally-Bein-Gymnasium in Beelitz unter den ersten Zehn. Dass
die Beelitzer Schule seit dem Sommer aktiv mit ihrem sechsten Platz wirbt, habe
den Wettbewerb zwischen den beiden Gymnasien „verschärft“, so der Michendorfer
Schulleiter. Bei einem Informationsabend für Eltern von Sechsklässlern in der
Grundschule Wildenbruch wurde Reinkensmeier kürzlich „gezielt von einer Mutter
gefragt“, auf welchem Platz seine Schule rangiert. Da die komplette Liste vom
Ministerium unter Verschluss gehalten wird, konnte er nur mit einem
Achselzucken antworten. „Das glauben uns doch aber die Eltern nicht“, so der
Schulleiter, „die denken doch, wir wollen es nicht sagen, weil wir schlecht
abgeschnitten hätten.“
Er befürchte, dass sich das Ranking im kommenden Schuljahr auf die Anmeldungen
für die 7. Klassen in Beelitz und Michendorf auswirken könnte. In einer
Konkurrenzsituation wie dieser sei des einen Vorzug automatisch des anderen
Nachteil. „Die Rangliste stellt keine Gefahr für Schulen dar“, meint jedoch
Ministeriumssprecher Thomas Hainz (SPD). Er ist sicher, das Gesamtprofil einer
Schule – also deren Fächerkanon, Fremdsprachenangebot, Arbeitsgemeinschaften
und Nähe zum Wohnort – sei für Eltern wichtiger als die Durchschnittsnote im
Abitur.
Diese Ansicht kann Reinkensmeier nicht teilen. Schließlich sei zu beobachten,
dass Jugendliche ihre Schule auch danach auswählen, „wo sie sich bessere Noten
erhoffen“. Angesichts dieses Trends und des steigenden Wettbewerbsdrucks unter
den Schulen befürchte er eine „Inflation der Zensuren“. Es sei nicht
auszuschließen, dass Lehrer künftig Abiturprüfungen „weniger streng“ zensieren,
um ihrer Schule eine bessere Position in der Rangliste zu verschaffen.
Schulaufsichtsreferent Ernst hält dies allerdings für unwahrscheinlich. Eine
wohlwollende Benotung könne die komplexe Datenerhebung, die dem Schulranking zu
Grunde liegt, nicht derart stark beeinflussen, als dass sich in der Liste
Unterschiede zeigten. „Es ist statistisch einfach nicht möglich.“ Außerdem habe
das Bildungsministerium verbindliche Korrekturstandards für das Zentralabitur
ausgearbeitet, an die sich Lehrer bei der Zensierung halten müssen.
Eine „gewisse Entscheidungsspanne“ bleibe den Pädagogen dennoch, weiß Reinkensmeier,
selbst Mathelehrer. „Einen Interpretationsspielraum bei der Zensierung kann ich
nicht ausschließen“, räumt auch der CDU-Bildungsbeauftragte Ingo Senftleben
ein. Aus Sicht des Michendorfer Schulleiters müssen Verzerrungen deshalb
künftig wirksamer ausgeschlossen werden. „Zentrale Prüfungen können nur einen
Maßstabswert bieten, wenn sie auch zentral bewertet werden“, betont Reinkensmeier.
Bei mehr als 12 000 Brandenburger Abiturienten, die jeweils drei schriftliche
Prüfungen schreiben, wäre ein hoher personeller und finanzieller Aufwand nötig,
um z.B. eine überschulische Gutachterkommission zu bilden. „Für so etwas hat
Brandenburg wohl kaum das Geld“, vermutet er.
Die Kosten sind jedoch nicht das Hauptargument des Ministeriums gegen eine
zentrale Kontrollinstanz. Vielmehr hielte man laut Ernst solch eine Einrichtung
für „einen heiligen Gral, der keinen Bezug zur realen Unterrichtssituation“
habe. Eine homogene Korrektorengruppe würde sich nur allzu schnell auf einen
„Lösungskonsens versteifen“, der spezifische Umstände – wie fachlicher
Schwerpunkt einer Schule, Ausländeranteil unter den Schülern – nicht
entsprechend berücksichtige.
Statt einer zentralen Korrektur erwäge das Bildungsministerium deshalb, das
Erstgutachten einer Abiturprüfung weiterhin in der eigenen Schule, die
Zweitkorrektur jedoch künftig an einer anderen vornehmen zu lassen. Für
Schuldirektor Reinkensmeier wäre dies ein Schritt in die richtige Richtung:
„Wenn die Prüfungen objektiver kontrolliert werden, kann ich auch mit der
Erstellung einer Rangliste leben“, versichert er, warnt aber weiterhin davor,
sie als ein „staatliches Gütesiegel“ zu interpretieren.
„Noten allein sagen nichts über die Qualität des Unterrichts aus“, weiß auch
der konservative Bildungspolitiker Senftleben, dessen Partei noch im Sommer die
Veröffentlichung des kompletten Rankings gefordert hatte. Die SPD hatte sich
vehement dagegen gewehrt, ging aber – einer Vereinbarung im Koalitionsvertrag
entsprechend – kürzlich einen Kompromiss mit der CDU ein: Pünktlich zum
kommenden Schuljahr werden so genannte Schulporträts für alle weiterführenden
Schulen in Brandenburg online verfügbar sein. Sie sollen u.a. allgemeine
Eckdaten, Informationen zu fachlichen Schwerpunkten und Arbeitsgemeinschaften
sowie die bisher geheim gehaltenen Durchschnittsnoten der Schüler im
Zentralabitur nennen.