Potsdamer Neueste Nachrichten 01.11.05
Versteckt im Kiefernwald
Buch mit Erinnerungen ehemaliger KZ-Häftlinge in Kleinmachnow vorgestellt
Kleinmachnow - 33 Stimmen – 33 Erinnerungen an ein paar Monate in Kleinmachnow.
Doch schon die Jahreszahlen 1944 und 1945 zeigen an, dass es sich hier nicht
einfach nur um „Lebenserinnerungen“ handelt. Die 33 polnischen Frauen, die in
dem Buch „Muster des Erinnerns“ zu Wort kommen, sprechen als ehemalige
KZ-Häftlinge, die in der Kleinmachnower Dreilinden Maschinenbau GmbH
Sklavenarbeit für den Bosch-Konzern leisteten. „Überlebenserinnerungen“ nannte
Moderator Jurek Czerwiakowski treffend diese Berichte bei der Vorstellung des
Buches am Sonntag im ehemaligen Bürgermeisteramt von Kleinmachnow.
Gerade einmal zehn Besucher fanden den Weg zu dieser Veranstaltung. Doch auch
in dieser kleinen Runde sprachen die Autoren Angela Martin, Ewa Czerwiakowski
und Rudolf Mach ausführlich über ihre Arbeit an diesem Buch.
Rudolf Mach, Vorsitzender des
Kleinmachnower Heimatvereins, betrat 1996 zum ersten Mal das ehemalige
Bosch-Gelände und stöberte in den verlassenen Gebäuden, die später von einem
DDR-Betrieb genutzt wurden. Hier fand er Papiere aus dem Jahr 1942 und begann
eine Geschichte zu rekonstruieren, die mancher gern vergessen gewusst hätte.
Versteckt im Kiefernwald hatte die Dreilinden Maschinenbau GmbH ab 1936 Teile
für die deutsche Rüstungsindustrie hergestellt. Gut 170 dieser so genannten
„Tarnfabriken“ gab es während des Zweiten Weltkrieges im Raum Berlin. In fast
jeder arbeiteten KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. In
Kleinmachnow waren es knapp 2500, darunter vom Sommer 1944 bis zum April 1945
750 Polinnen.
In ihrem 2002 im Berliner Metropol-Verlag erschienenen Buch „Ich sah den Namen
Bosch“ hatte Angela Martin 16 dieser Frauen zu Wort kommen lassen. In dem neuen
Buch „Muster des Erinnerns – Polnische Frauen als KZ-Häftlinge in einer
Tarnfabrik von Bosch“, das Anfang des Jahres zuerst in polnischer Sprache erschien,
kommen weitere 33 Frauen zu Wort.
Obwohl die Erinnerungen von Zeitzeugen, die so genannte „oral history“ in der
Geschichtswissenschaft nicht unumstritten ist – Kritiker betonen, dass das
menschliche Gedächtnis diese Erinnerungen über die Jahre hinweg zu oft
verfälsche und daher deren Wahrheitsgehalt zweifelhaft sei – zeigt „Muster des
Erinnerns“, wie wichtig einzelne Stimmen im Anonymen des Faktischen sind. Denn
wo Zahlen, Daten oft nur eine abstrakte Vorstellung von dem Geschehen
ermöglichen, führt das persönliche Schicksal die gnadenlose Brutalität des
NS-Staates schonungslos vor Augen.
Da erzählt Maria Skrypinska-Rak, wie sie, damals gerade 15 Jahre alt, vom
Transport in den Viehwaggons und wie sie vor Hunger weinte. Wladyslawa Gorska
erinnert sich, wie deutsche Kinder Steine nach ihr warfen und sie „Banditen“
schimpften. Schläge von Aufseherinnen, unerhoffte Hilfe, wenn sie ein Stück
Brot zugesteckt bekamen, das Aufschreiben von Kochrezepten, um so den Hunger zu
überlisten und sich daran zu erinnern, dass es außerhalb des Stacheldrahts ein
anderes, ein menschliche Leben gab – wenn diese Frauen sprechen, bekommt das
Leiden ein Gesicht.
Ewa Czerwiakowski, die anfangs nur als Übersetzerin arbeitete, sich dann immer
mehr bei der Zeitzeugenbefragung engagierte, war erstaunt, wie offen die
polnischen Frauen über ihr Schicksal sprachen. „Es war zu spüren, dass sie
reden wollten“, sagte Ewa Czerwiakowski.
Das Unternehmen Bosch dagegen, so berichteten Angela Martin und Rudolf Mach,
hält sich bis heute mit Auskünften zurück. Doch Beharrlichkeit führt auch zum
Ziel. Und so erzählt „Muster des Erinnerns“, neben den 33
„Überlebenserinnerungen“ der polnischen Frauen, auch die Geschichte der
Tarnfabrik Dreilinden Maschinenbau GmbH – Fakten, denen nicht die Gesichter
fehlen. Dirk Becker
„Muster des Erinnerns“ Polnische Frauen als KZ-Häftlinge in einer Tarnfabrik
von Bosch, Metropol Verlag, 14 Euro
BERICHT EINER ÜBERLEBENDEN
„Ich habe noch immer Angst“
„Zwei Tage später waren wir im richtigen Lager. Mama sagte, ich sei sechzehn,
nicht vierzehn. Deswegen konnten wir zusammenbleiben. Man nahm uns alles weg,
dafür bekamen wir gestreifte Lagerkleidung ohne Unterwäsche und Holzpantinen …
Ich arbeitete in der Gruppe 32 bei der Montage mit Kollektoren, in Schichten
von je zwölf Stunden. Ich musste schwere Kisten heben. Für ein vierzehnjähriges
Kind war das nicht einfach. In der Halle war es kalt und ich arbeitete gleich
neben dem Fenster. Ab und zu wollten wir uns wärmen und flüchteten auf die
Toilette. Das war aber riskant, denn die Aufseherinnen schlugen uns dafür mit
ihren Peitschen … Wir mussten uns an Arbeitsnormen halten und jeden Tag eine
bestimmte Anzahl an Teilen produzieren. Wären wir nicht da gewesen, hätte es
kaum jemanden gegeben, um in der Fabrik zu arbeiten. Es war doch Krieg … Es gab
keine Solidarität im Lager. Das ist ein Mythos. Alle kümmerten sich nur um ihre
Angelegenheiten …“ Teresa Lassota