Potsdamer Neueste Nachrichten 10.05.05
Die Buchen schwiegen zur
Katastrophe
Gelungene "Titanic"-Inszenierung unter freiem Himmel in Kleinmachnow
Kleinmachnow - Die Katastrophe blieb aus, die dunkle Gewitterwolke,
die bedrohlich über dem Kanalufer hing, zog davon, noch ehe die erste Szene von
„Der Untergang der Titanic“ begann. Zum ungewohnten Aufführungsort unterhalb
des Seeberges kamen viele der über hundert Besucher vorsorglich mit
Regenschirmen, auch weil sie tief im Innersten am Wetterbericht zweifelten.
Solche Skepsis ist ganz im Sinne des Autors, Hans Magnus Enzensberger, der mit
seinem Versepos um den Mythos Titanic auf den Makel der Fehlbarkeit zielt, mit
dem alles behaftet ist, was von Menschengeist ersonnen und geschaffen wurde.
Das Epos, das er ironisch „Komödie“ titulierte ist ein Abgesang auf
Fortschrittsglaube und Technikhörigkeit. Die Titanic, gepriesen als die
unsinkbare Königin der Meere, wurde auf ihrer Jungfernfahrt nach New York von
einem Eisberg aufgeschlitzt wie eine Konservendose. Das Riesenschiff, Inbegriff
des Fortschritts, versank in einer eisigen Nacht zum 8. Mai 1912 und mit ihm
1500 Passagiere, nur 700 konnten gerettet werden. Nicht nur das Schiff bekam
einen tödlichen Riss, der eiskalte Ozean erschütterte das sichere Lebensgefühl
einer ganzen Epoche. Enzensbergers Epos zeigt in kurzen Szenen Momentaufnahmen
zum Untergang. Es sind Erfahrungen von Passagieren, der Mannschaft, von Toten
und Überlebenden aller Klassen, inklusive Zeitangaben, Temperaturen und
Geräuschen. „Der Aufprall war federleicht … keine Sirenen, keine Alarmglocken …
Die Ruhe an Bord ist unvorstellbar. – ,Hier spricht der Kapitän. Es ist genau
zwei Uhr, und ich befehle: Rette sich wer kann!’ – Musik! Zur letzten
Nummer erhebt der Kapellmeister seinen Stock.“ Doch die Texte beschränken sich
nicht allein auf das Unglück der Titanic, sie greifen auch die Darstellung von
Katastrophen in der Kunst auf. Unüberhörbar das Vergnügen an der Destruktion:
„Das wird ein dunkles Bild. Wie fängt man es an, den Weltuntergang zu malen ?
... Die ganze Welt zu zerstören macht viel Arbeit.“ Auch der Bühnenhintergrund,
eine 36-Quadratmeter-Reproduktion des Gemäldes „Das Floß der Medusa“ (Théodore Géricault,
1819) ist eine Metapher zur Apokalypse. Da winken Schiffbrüchige auf einem Floß
der fernen Hoffnung am Horizont zu, einem Rettungsschiff, nur wenige Zentimeter
groß. Eine Metapher zur Katastrophe am Horizont, eine „in der es keinen Ausweg
gibt. Die dort, das sind wir“, ist in dem Faltblatt zu lesen, das der
Trägerverein des Kulturhauses Kammerspiele an die Zuschauer verteilte. Der
Verein produzierte die Lesung des Epos mit fünf Schauspielern unter der Regie
von Laszlo Kornitzer. Absichtsvoll für diese Voraufführung wurde der Ort am
Gedenkstein von Nordahl Grieg gewählt. Der norwegische Schriftsteller war im
Zweiten Weltkrieg als Kriegsberichterstatter an Bord eines englischen Bombers,
der in den Teltowkanal stürzte. Die Idee zu dieser Kulisse kam vom
Gemeindevertreter Christian Grützmann, nachdem andere geschichtsträchtige Orte
ins Auge gefasst worden waren. Entscheidend war für die Wahl ebenso, dass die
Idylle des Ortes mit den Buchen gefährdet ist. Denn wenn es zum Ausbau des
Teltowkanals kommen sollte, fiele dieses Uferstück den Baggern zum Opfer. Der
lang anhaltende Beifall am Schluss der Aufführung lässt sich deshalb auch als
Zustimmung verstehen und viele, die erstmals den Uferweg in Augenschein nahmen,
nutzten die letzte Abendsonne zu einem Spaziergang. Kirsten Graulich