Um die Jahrhundertwende schrieb man Klein-Machnow. Da war der Ort noch der Vorgarten von Berlin-Zehlendorf. Aber ein verführerischer, denn Berlin quoll über und übte sich darin, Moloch zu werden. Fortan war Kleinmachnow die Kolonie im Grünen, nahe der Großstadt. Wer es sich leisten konnte, zog hierher. Und doch, Harald Kretzschmar, für den seit über einem halben Jahrhundert Kleinmachnow eine Lebensform ist, weiß, wie trügerisch gerade die Paradiese sind.
In »Paradies der Begegnungen« blickt er auf ein Jahrhundert Kleinmachnower Lebensläufe zurück – die meisten von denen, die darin vorkommen, kennt (oder kannte) er persönlich – zeichnete sie auch mit seinem markanten Strich, der souverän auf der Grenze zur Karikatur balanciert, ohne je abzustürzen. Da werden keine vordergründigen Effekte produziert, sondern jene Linien im Gesicht nachvollzogen, für deren Verlauf ab einem gewissen Alter jeder selbst verantwortlich ist. In Kleinmachnow fanden die, die früher hierher kamen, keinen gleichgültigen Ort vor, sondern ein Biotop, das manchen erst zur vollen Größe wachsen ließ. Und doch, wenn Kretzschmar nun zu den Dutzenden pointiert geschriebener Porträts seine Zeichnungen stellt, dann muss ihn bei dieser Versammlung auch ein unheimliches Gefühl beschlichen haben: »Auf den ersten Blick ein heiteres Buch. Locker skizzierte Gesichtszüge und Lebensläufe. Anekdotisch aufgeputzt. Erleuchtet von Geistesblitzen im Zitat. Beim zweiten Blick kommt die Nachdenklichkeit. Was für zerklüftete Schicksale. Tragik der Historie. Hoffnungsvolle Abbrüche. Verheerende Abstürze.«
Aus diesem Widerspruch ist ein eindringliches Porträt Kleinmachnows geworden: Geschichtsbuch und Geschichtenbuch in einem, altersweise und jugendfrech zugleich. Oder sollte man besser sagen: unerschrocken den dritten Weg probend? Der hier ein dritter Blick ist: »Der Durchblick quer durch eine einzigartige Kulturlandschaft.«
Wenn ich heute durch Kleinmachnow gehe, was allerdings selten passiert, dann denke ich: Hier möchte ich nicht leben. Endlose Wohnstraßen mit zaunbewehrten Einfamilienhäusern. Neureicher Einheitsstil wuchert in jeder freien Nische. Kleinstädter mit Bankkonto und Anwalt, keinem Streit mit ihren Nachbarn aus dem Weg gehend. Ein Großteil der Bevölkerung Kleinmachnows ist erst nach 1990 hierher gezogen. Viele wissen kaum etwas von diesem besonderen Ort, außer, dass hier früher »die Bonzen« wohnten. Ob Kretzschmars »Paradies der Begegnungen«, dieser Appell, der Versuchung einer bequemen Gedächtnislosigkeit zu widerstehen, hier fruchten wird? Vielleicht ist Kleinmachnow erst jetzt wirklich zur geistigen Provinz herabgesunken, seiner vielen Widersprüche beraubt, die es interessant machten. Nun ist es eine Wohnstadt für die, die es sich leisten können, aber sonst keine Ansprüche haben. Man ahnt, es ist nicht leicht, heute in Kleinmachnow zu leben und dabei zu wissen, was dieser Ort einmal – für lange Zeit sogar – war.
Viele frühere Bewohner haben Kleinmachnow verlassen. Die einen, weil sie ihre Häuser, dem Prinzip Rückgabe vor Entschädigung geschuldet, verloren haben, die anderen, weil sie sich hier plötzlich fremd fühlten. So wie der Fotograf Thomas Billhardt, der heute in Italien, nahe der Appenien, in der Emilia Romana eine neue Zuflucht vor der Zudringlichkeit des Zeitgeistes gefunden hat. Und die anderen, der beharrende Rest, Harald Kretzschmar unter ihnen? Sie üben sich in der Proustschen Kunst, die verlorene Zeit zu suchen, die zugleich Lebens- und Geschichtszeit ist. »Paradies der Begegnungen« wird so zur Geschichte nicht nur wechselnder Ideologien und auf- und absteigender Karrieren in gleich mehreren deutschen Staaten, sondern auch der wechselnden Hoffnungen, Moden und Baustile.
Wie überall gab es auch in Kleinmachnow zweierlei Sorten Mensch. Diejenigen, die jeder in Kleinmachnow kannte – und nur dort. Und die anderen, die zwar oft nicht ortsbekannt, aber dafür weltberühmt waren. Wer zu welcher Gruppe gehörte, entschied sich schon wenige Kilometer weiter: in Berlin. Zur ersteren Gruppe wollte natürlich niemand gehören, darum verzichten wir hier auf Beispiele. Jeder wird in diesem Buch auf Namen stoßen, die er nicht kennt – doch wenn man ihre von Kretzschmar erzählten Biografien gelesen hat, bedauert man dies oft.
Andere, die hier – für längere oder kürze Zeit – lebten, kennt jeder: Arnold Schönberg etwa, der gerade seine Gurre-Lieder komponierte und Besuch von Franz Marc und Alma Mahler bekam. Schönberg folgten Kurt Weill und Lotte Lenya – allerdings war es wohl eher die Großstadt Berlin als Kleinmachnow, die sie anzogen. Doch Kretzschmar ist nun mal ein Lokalpatriot, den man nicht unverbesserlich nennen sollte, eben weil er nie versucht, ein kleinstädtisches Maß an großstädtische Charaktere anzulegen.
Nein, Kretzschmar hat keine Kleinstadtchronik im Sinn, ihm geht es um den Mythos Kleinmachnow. Und der begann 1945 zu leben, als viele Emigranten nach Deutschland-Ost zurückkehrten, Nazigegner aus den KZ kamen und nun, zuerst in der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR, leitende Posten übernahmen. Mancher Künstler wäre auch gern nach Berlin gezogen, aber kam dann nur bis Kleinmachnow. Hier profitierte man von der restriktiven Zuzugspolitik Berlins.
Wie liest man solch ein Buch voller Namen? Indem man zuerst nach denen sucht, die man selber kannte. Da ist Ursula Madrasch-Groschopp, die »Gräfin« genannt, die seit 1946 für die »Weltbühne« arbeitete und bis zu ihrem Tod das universelle Gedächtnis dieser Zeitschrift war. Als ich einmal eine spezielle Frage zur Nachkriegsredaktion der Zeitschrift hatte, ging ich zu ihr und sie, bereits hoch in den Achtzigern, in knielanges schwarzes Kleid mit ebenso schwarzer Netzstrumpfhose gewandet (was ihr stand), empfing mich mit der bündigen Frage: »Wer sind Sie und was wollen Sie!« Daraus wurde dann schnell ein freundlich-damenhaftes: »Was wollen Sie wissen?« Man kann es Kretzschmar nachfühlen, dass er über Begegnungen, die man nicht vergisst, schreiben musste. Und über die vielen Brüche in den Biografien, die die gesellschaftlichen Um- und Abbrüche in der DDR zeigten. Im August 1961 lag Kleinmachnow plötzlich im Mauerschatten und nach Berlin, Hauptstadt der DDR, war es eine weite Reise.
Georg Dertinger wohnte hier, Generalsekretär der Ost-CDU und erster Außenminister der DDR, der 1950 das Abkommen mit Polen über die Oder-Neiße-Grenze unterzeichnete, dann 1954 wegen »Verschwörung« und »Spionage« zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, von denen er zehn absaß. Ein Opfer der veränderten Deutschlandpolitik der SED, die einer wie er störte. Robert Havemann lebte hier, noch nicht unter Hausarrest stehend wie dann in Grünheide. In Havemanns Haus zogen der Wirtschaftsjournalist Karl-Heinz Gerstner und seine Frau Sibylle, die auch als Malerin unter dem Namen Boden und als Autorin unter dem Namen Muthesius bekannt wurde. Die Liste ist lang und reicht vom Zeichner Herbert Sandberg über den Komponisten Ernst Hermann Meyer, den Verleger Walter Janka bis zu Christa und Gerhard Wolf, die hier einige Jahre wohnten und eng mit Maxie und Fred Wander befreundet waren; dramatische Geschichten verbinden sich damit. Viele Schauspieler lebten und leben hier: von Erwin Geschonneck, Agnes Kraus, Helga Göring, Gisela Uhlen, Herbert Köfer bis zu Hermann Beyer. Über die Regisseure Frank Beyer, Karl Gass, Lothar Warneke, Ralf Kirsten oder auch Horst Seemann wäre vieles zu berichten, was schon halb vergessen ist – einiges davon kann man im »Paradies der Begegnungen« nachlesen.
Kretzschmar schreibt auch
über die, die sich hier versteckten und nichts mehr mit der Welt zu tun haben
wollten. So zog Hildegard Knef im Oktober 2001 hierher – um zu sterben. Sie,
die Kosmopolitin, deren Weg 1946 bei der DEFA mit Wolfgang Staudtes »Die Mörder
sind unter uns« begann und die ihr weiteres Leben als Achterbahnfahrt
beschrieb, suchte in Kleinmachnow nur noch Ruhe. Gesehen hat sie hier kaum
jemand und drei Monate später war sie tot. Kretzschmar fragt, skeptisch in die
Zukunft blickend: »Kleinmachnow bleibt still. Kann es das Schicksal seiner
Künstler begreifen?«
Lesung am 16.12., 20 Uhr, im Café Bistro »CaBiNett«, Joachim-Karnatz-Allee
47, Berlin. Dort ist derzeit auch eine Ausstellung von 25 Porträtkarikaturen
aus der Feder Kretzschmars zu sehen: Schauspieler und Regisseure des Deutschen
Theaters.
URL: http://www.neues-deutschland.de/artikel/139708.der-stille-ort.html