Märkische Allgemeine Zeitung 08.04.06
PETER HAHN
Niemand fährt nach Mittenwalde, notierte einst
Fontane. Das sagten sich auch die Mittenwalder, als die Gegend vom rasanten
Aufstieg der Reichshauptstadt wenig abzubekommen schien. Mit der Görlitzer
und der Dresdener Eisenbahn hatten sie zwar in diesem Teil des Kreises
Teltow seit 1867 und 1875 Hauptstrecken, aber keine Kleinbahnen, die das
Gebiet erschließen und Personen und Güter schnell nach Berlin
transportieren.
Sie schufen ein Eisenbahnbau-Comité und fanden mit
der am 3. November 1885 vom Königlich Preußischen Baurat Carl Waechter und
Kommerzienrat Carl Vering gegründeten Gesellschaft "Vering & Waechter"
einen Partner. Ihre "Rixdorf-Mittenwalder Eisenbahn AG", die, das
sei vorweggenommen, nach der Umbenennung von Rixdorf in Neukölln als "Neukölln-Mittenwalder-Eisenbahn
(NME)" firmiert, baute 1899/1900 eine 27 Kilometer lange Strecke von
Mittenwalde über Brusendorf, Groß Kienitz, Selchow, Schönefeld, Rudow,
Buckow und Britz zum Bahnhof Hermannstraße. Hier entstand eine Übergabe-
und Umsteigestation zur Ringbahn der Königlich Preußischen Staatseisenbahn.
Die Stationen bekamen Lade-, Kreuzungs- und
Hauptgleise mit Bahnhofsgebäuden und Güterschuppen. Am 28. September 1900
um 6.18 Uhr machte sich der erste Zug von Mittenwalde nach Rixdorf auf die
Strecke. Im ersten Jahr wurden in jeder Richtung täglich vier gemischte
Personen- und Güterzüge befördert. Das war zu wenig. So beschloss man die
Verlängerung der Strecke über Mittenwalde hinaus nach Schöneicherplan. Dort
hatten Vering & Waechter stillgelegte Ton- und Kiesgruben erworben. So
kam ab 1903 Berliner Müll in die Gruben und Ziegelsteine, Sand und Kies
nach Berlin. Aus den 24 000 Gütertonnen des Jahres 1902 wurden 165 000 und
obendrein jährlich etwa 100 000 beförderte Personen.
Da mit dem Teltowkanal neue
Industrieansiedlungen erwartet wurden, ist 1907 südlich vom Bahnhof
Hermannstraße ein respektabler Güterbahnhof der NME mit Büro, Güter-,
Lokomotiv-, Wagenschuppen und Werkstätten in Betrieb genommen worden.
Zeitgleich wurde in dieser Tempelhofer Gegend für einen kreuzungsfreien Verkehr
zwischen Straße, Bahn und Kanal gesorgt. Die stählerne Eisenbahnbrücke am
Teltowkanal Kilometer Tek km 25,21 zum heutigen "Bahnhof Teltowkanal"
hat zwar nicht den Weltkrieg, aber den Bau des Autobahndreiecks Tempelhof
überlebt. Eingezwängt zwischen den Brückenpfeilern der Ein- und Ausfahrten zur
Anschlussstelle Gradestraße behauptet sie sich nach über einhundert Jahren noch
immer mit Stolz und Würde.
Zwischen 1908 und 1937 erfolgte der Bau von diversen
Nebengeleisen, denen in der jüngeren Geschichte verschiedene Gewichtungen
zuteil wurden: Anschlüsse zum Speicher des Tempelhofer Hafens, zur Kanalstraße
in Rudow, zum Gaswerk in Britz, zur Motzenseebahn, zu den
Henschel-Flugzeugwerken nach Schönefeld und 1936 ein fünf Kilometer langes
Anschlussgleis zum Flughafen Tempelhof, über das die NME während der Berliner
Blockade vom 24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949 in Tag- und Nachtschichten die mit
der Luftbrücke eingeflogenen Kohletonnen zu den West-Berliner Zielorten
transportierte.
Was die Weltkriegsbomben nicht erledigt hatten, besorgte
die Wehrmacht am 22. April 1945 mit der Sprengung der NME-Brücke über den
Teltowkanal. Die sowjetische Kommandantur sorgte allerdings dafür, dass am 17.
Mai 1945 der Personen- und Güterverkehr zwischen Neukölln und Mittenwalde
wieder aufgenommen werden konnte. Ein Jahr später erfolgte die Enteignung der
im Land Brandenburg gelegenen Strecken. Am 26. Oktober 1948 wurde an der Grenze
zwischen dem Amerikanischen Sektor von Berlin und der Sowjetischen
Besatzungszone das Streckengleis nach Mittenwalde (für immer) unterbrochen.
Die Deutsche Reichsbahn übernahm,
zunächst, legte später still und baute ab. Mit der Mauer kam ein Kuriosum, weil
die Stammstrecke der NME zwischen Buckow und Rudow auf 300 Metern durch die DDR
verlief. Nun mussten die Züge angemeldet und nur zu festgesetzten Zeiten bewegt
werden. Das Zeremoniell der Schikane: Vor dem quer über die Schienen gesetzten
Eisentor hatte der Zug zu halten. Nach dem Öffnen fuhr der Zug ein und hielt
erneut. Das Tor wurde verschlossen, Waggons und Papiere der Eisenbahner kontrolliert.
Die Ausfahrt nach rund dreihundert Metern vollzog sich in derselben Weise. 1963
wurde dem Spiel durch eine 1,2 Kilometer lange Umgehungsstrecke auf
West-Berliner Gebiet ein Ende bereitet.
Auf diesem Gleis konnte die "Neukölln-Mittenwalder-Eisenbahn"
nun unabhängig von der DDR mit Kesselwagenzügen die Öltanklager im Hafen Britz-West,
Rudow und Gradestraße und über einen neugebauten Anschluss das BEWAG-Heizkraftwerk
Rudow mit Kohle beliefern - bis zum 1. Mai 2003. Rudow ging vom Netz und NME
verlor einen großen Kunden.
Als der Berliner Senat 1994 entschied, Hausmüll nicht
mehr per Lkw, sondern mit der Eisenbahn auf die brandenburgischen Deponien zu
transportieren, wurde auf dem Bahnhof Teltowkanal eine Umschlagsanlage
errichtet. Die NME übernahm die Zuführung der Waggons zum DB-Bahnhof Neukölln.
Der Transport nach Schönereicherplan erfolgt allerdings nicht mehr auf den
eigenen Gleisen, sondern auf Umwegen über Mahlow und Zossen.
Zeitlich befristete Aufgaben bekam die NME mit dem Transport
jener Erdmassen, die beim Autobahnbau zwischen Tempelhof und Britz anfielen.
Das Erdreich aus den Baugruben von Potsdamer Platz und Ministergärten landete
ab 1997 nach Fahrten über ein neues Anschlussgleis in Großziethen - zum
Abdecken an der Mülldeponie.
Die NME verfügt heute über eine Gesamtgleislänge von rund
21 Kilometern, beschäftigt 27 Mitarbeiter und leistet mit sechs Lokomotiven
Transporte von zirka einer Million Tonnen. Für die Deutsche Bahn übernahm sie
Aufgaben zwischen dem DB-Bahnhof Neukölln und dem NME-Bahnhof Hermannstraße.
Dazu gehören das Auflösen und Zusammenstellen ein- und abgehender Züge, das
Bedienen des Neuköllner Freiladegleises und die Bereitstellung der für den
Güterbahnhof Treptow bestimmten Wagen.
So isses, resümiert Fontane. Seit über einhundert Jahren
ist die "Neukölln-Mittenwalder-Eisenbahn" fast vollständig in
Familienbesitz. "Am Mute hänget der Erfolg. So isses."
Die MAZ-Serie "100 Jahre Teltowkanal" steht im
Internet unter www.MaerkischeAllgemeine.de/teltowkanal
(Potsdam-Mittelmark)