Märkische Allgemeine Zeitung 11.02.06
Ein
Frühwerk der Moderne
Tek km 19,00: Kraftwerk Steglitz / "100 Jahre
Teltowkanal" (Teil 22)
PETER
HAHN
Unter der Vielzahl von Kulturdenkmalen der preußischen
Geschichte spielen die verbliebenen Zeugnisse der Industrialisierung des
vorletzten Jahrhunderts in Berlin und Brandenburg leider nur eine sekundäre
Rolle. Industrieanlagen haben es bei der Konkurrenz mit Schlössern,
Herrenhäusern, Kirchen, Klöstern und Parkanlagen schwer. Sie sind oft schon
außer Betrieb, schwer zugänglich und als zu schützendes "Denkmal"
erst spät mit dem Strukturwandel entstanden. Was als solches aber nicht
anerkannt wird, kommt auf der Denkmalliste nicht vor.
Einige Bauten und Anlagen entlang des Teltowkanals,
sowohl auf Brandenburger als auch auf Berliner Terrain, gehören zu den
"Vergessenen", obwohl an ihrer Erhaltung als Quelle menschlicher
Entwicklung ein öffentliches Interesse bestehen müsste. Das Kraftwerk Steglitz
gehört zweifellos dazu, auch wenn das Drumherum in den Mauerjahren mit Zubauten
verschandelt wurde.
Die damals noch selbstständige Gemeinde Steglitz
beschloss 1909 den Bau eines Kohlekraftwerkes auf dem ehemaligen Betriebshof
der Groß-Lichterfelder Straßenbahn. In diesem Depot war die legendäre
Dampfstraßenbahnlinie 96 zu Hause, die seit 1887 den Bahnhof Lichterfelde-Ost
mit Teltow verband, und als verspottete "lahme Ente" ab 1906 bis zur
Kleinmachnower Schleuse fuhr.
Die gemeindeeigene Anlage am Teltowkanal Kilometer Tek km
19,00 wurde am 1. April 1911 mit drei Dampfturbinen in Betrieb genommen. Ein
Jahr später produzierte man auch zweihundert Tonnen Stangeneis pro Tag. Als
Steglitz 1922 in Groß-Berlin einging, hieß der neue Betreiber Städtische
Elektrizitätswerke Bewag. 1926 kam ein Heizkraftwerk hinzu, das im Frühjahr
1945 nur mit Mühe versorgt werden konnte. Da die meisten Brücken des
Teltowkanals im Wasser lagen und an eine funktionierende Binnenschiffahrt nicht
zu denken war, wurde die Kohle am Bahnhof Lichterfelde per Zug angeliefert, in
Fuhrwerke geladen und ins Kraftwerk gebracht.
Während des Kalten Krieges und der Mauerzeit wurde in Steglitz
einiges investiert: 1958 Umbau von Kohle auf Öl, 1960 zwei Gasturbinen, 1964
zwei Senatsölreservetanks mit je 25 000 Tonnen Fassungsvermögen und "als
Weltneuheit eine Batteriespeicheranlage, die die Frequenzregelung und die
Sofortreserve im Westberliner Inselnetz der Bewag verbesserte".
Nach dem Fall der Mauer traten die Umweltschützer auf den
Plan. Die geforderten Auflagen bewirkten schließlich am 28. Februar 1994 die
Abschaltung der Gasturbinen. Ein halbes Jahr später legte sich durch einen
Turbinenschaden das übrige Kraftwerk selbst still. Am 1. Oktober 1996 gingen am
Teltowkanal endgültig die Lichter aus.
Geblieben sind die Maschinenhalle, das Kesselhaus und die
Verwaltungsgebäude. Die Bauten entwarf Hans Heinrich Müller. Dieser Architekt
stand und steht leider noch immer zu Unrecht im Schatten der großen
Zeitgenossen Peter Behrens und Hans Hertlein, die mit ihren Bauten für AEG und
Siemens glänzten. Dieser eher unbekannte Vertreter des modernen Industriebaus
in Deutschland hat Berlin mit seinen industriellen Backsteinbauten ein
bedeutendes Erbe hinterlassen, das bis heute fast vollständig erhalten ist.
Müller (1879-1951) arbeitete nach seinem Studium an der
Technischen Hochschule in Charlottenburg zunächst als Baumeister der
Landgemeinde Steglitz. 1922 wurde er Chefarchitekt der Bewag, für die er in den
folgenden Jahren ein wahrhaft umfangreiches Bauprogramm mit einer Vielzahl von
Umspannwerken, Netzstationen und Kraftwerkserweiterungen umsetzte. Seine über
ganz Berlin verteilten Backsteinkleinode hat er mit großem Gespür für Details
und Material gestaltet. Konstruktive Lochfassaden, feine Dachabschlüsse, ab-strakte
Pfeilerfronten, Spitzbögen, Tordurchfahrten und Türmchen sind sein
Markenzeichen. Gerade heute, wo allerorten die einfallslosesten Bauten für
Industrie und Handel aus dem Boden schießen, fällt auf, mit welchem Geschick er
an sich nüchterne Versorgungseinrichtungen in klassisch ausgewogene Formen zu
kleiden wusste.
Das Gehäuse des alten Steglitzer Kraftwerks von Hans
Heinrich Müller, dies muss man am Beginn des 21. Jahrhunderts zugestehen, hat
seinen eigentlichen Zweck verloren. Es ist allerdings ein originäres Zeugnis
der ziemlich beispiellosen Industrialisierung Berlins im 19. Jahrhundert, und
es ist als Frühwerk der Moderne auch ein Beleg dafür, was aus märkischem Ton
einst entstanden ist. Ob das mit Rathenower Handstrichziegeln verblendete Gebäude
aber als Energiemuseum überleben wird, hängt nicht zuletzt von den Einsichten
des neuen Eigentümers Vattenfall ab. Wer "Energie an Millionen
vertreibt", sollte sich das Gespür für das Detail erhalten.
Die MAZ-Serie "100 Jahre Teltowkanal" steht im Internet unter www.MaerkischeAllgemeine.de/teltowkanal.
(Potsdam-Mittelmark)