Märkische Allgemeine Zeitung 28.12.05

 

Der Schaffner bestellte Bier, Korn und Zigarre
Tek km 08,30: Waldschänke in Stahnsdorf / "100 Jahre Teltowkanal" (Teil 9)

JENS STEGLICH

Als am 20. Mai 2005 die neue Straßenbrücke an der Kleinmachnower Schleuse eröffnet wurde, konnte man eine Ahnung davon bekommen, was hier einst an den Wochenenden los war. Vor allem Berliner zog es in Scharen hieraus. Kein Wunder, dass an dieser Stelle des Teltowkanals nach dessen Eröffnung im Jahre 1906 Gastlokale wie Pilze aus dem Boden schossen. Zur Hoch-Zeit in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts waren es fünf, zwei haben überlebt: die "Waldschänke" auf Stahnsdorfer Seite und das "Gasthaus zur Schleuse" auf Kleinmachnower Territorium. Die Restaurants haben einiges gemeinsam: Beide werden von der Familie Lassotta geführt und beide sind so alt wie der Kanal selbst - einhundert Jahre. Die Waldschänke - zumindest das Gebäude - ist wahrscheinlich noch älter. Von ihr wird erzählt, sie sei vor dem "Leben" als Gasthaus das Domizil der Bauleitung gewesen. So hat es jedenfalls Jürgen Lassotta erfahren. Er fing 1960 als Gaststättenleiter an. Noch heute hilft er mit, alte Gasthausgemütlichkeit zu bewahren. Als er begann, fuhren noch Straßenbahnen vorbei - bis mit dem Mauerbau die Verbindung gekappt wurde.

Ein abruptes Ende fand damit auch ein Ritual: Auf dem Weg zur Kleinmachnower Schleuse, Endstation der Linie 96, die von Lichterfelde Ost über Teltow-Seehof bis zur Schleusenbrücke führte, hielt die Bahn am Ausflugslokal. Der Straßenbahnschaffner Willi Runow stieg aus, lief zum Tresen und bestellte Bier, Korn und Zigarre. "Nach Willi konnte man die Uhr stellen. Wenn er kam, wussten wir, wie spät es ist. Wenn er ging, waren genau zehn Minuten vergangen." Diese Zeit, so sah es der Fahrplan vor, wartete die Straßenbahn an der Schleuse, um danach wieder in Richtung Lichterfelde zu fahren. An der Waldschänke stoppte sie und nahm den Schaffner auf. "Die Zeche bezahlte er aus dem Wechsler".

Im Gasthaus hängt die Vergangenheit auch an den Wänden. Auf einem vergilbten Foto steht ein Junge vor der Gaststätte. Es soll der Sohn vom Gastwirt Arnold Kressler gewesen sein, der in den dreißiger Jahren Betreiber war. Gunther Lassotta, der mit seinem Bruder Uwe 1999 die Schänke vom Vater übernahm, erinnert sich an die Tage nach dem Mauerfall, da stand dieser "Junge" als ergrauter Herr in der Waldschänke. Für den alten Mann war es eine Rückkehr in Kindheitstage, bei der er die neuen Hausherren kennenlernte.

Die sind inzwischen auch schon in der dritten Generation mit dem Haus verbunden. Das soll einst, nachdem der Baustab seine Arbeit erledigt hatte und abgerückt war, von einem Herrn Pächtel übernommen worden sein. Er machte es zur "Waldschänke" wie man sie heute kennt, gab sie aber wieder auf, um für 40 000 Goldmark unweit ein neues Lokal zu bauen: das Hubertus, das die Stahnsdorfer "die Hube" nannten und aus dem ein China-Restaurant wurde.

Die Waldschänke entwickelte sich unterdessen in den dreißiger Jahren zum Publikumsmagneten. Die Bedingungen waren ideal: Die Straßenbahn hielt vor der Tür, zur Schleuse waren es nur wenige Meter. Die Dampferanlegestelle sorgte für den Rest. Im Sommer standen denn auch zusätzlich 300 Gartenplätze bereit, um die Ausflugsmassen aufzunehmen. "Hier können Familien Kaffee kochen", hieß es, und da der damals sehr teuer war, brachten die Gäste ihn oftmals mit. Ein Kessel mit heißem Wasser stand immer bereit. Die Attraktion der Waldschänke war Eisbein. Unzählige Schweinshaxen wurden in einem Kessel in der kleinen Küche gekocht.

Die Waldschänke verlor auch zu DDR-Zeiten ihre Anziehungskraft nicht. Nachdem der Betreiber Weinhold in den Westen gegangen war, wurde sie ab 1. Januar 1957 unter der Rechtsträgerschaft der "Handelsorganisation Gaststätten" (HOG) von Gaststättenleiter Heinz Griebentrog geführt. Eigentümer von Grund und Haus blieb indes weiter die Gemeinde Stahnsdorf.

1960 begann die Ära Lassotta. Sieben Jahre später sorgte Vater Lassotta dafür, dass aus dem Gasthaus immer mittwochs und an den Wochenenden ein Tanzlokal wurde. Auch Bälle fanden hier statt. Eine Tradition, die zufällig begann. Nachdem die Erweiterung der Waldschänke abgeschlossen war, wollte sich Lassotta bei allen Beteiligten bedanken und lud sie zu einem Ball ein. Es muss ein großer Erfolg gewesen sein. Später gab es viele Bälle, einen Hausball, einen französischen und den sogenannten "Verkehrten Ball", auf dem die Damen zum Tanz aufforderten.

Nach der Wende übernahm Lassotta die Gaststätte als Pächter. Da waren seine beiden Söhne schon lange mit an Bord. Die ersten Jahre waren "phantastische Jahre", sowohl in der Waldschänke als auch im "Gasthaus zur Schleuse", das sie 1992 zusätzlich übernommen hatten.

Nachdem allerdings ein Lastkahn den Pfeiler der Schleusenbrücke gerammt hatte, wurde das historische Bauwerk am 1. September 1994 gesperrt. Der Standort der Gaststätten, den man vorher eine gute Lage mit ausgezeichneter Verkehrsanbindung hat nennen können, war zur Sackgasse geworden. Es folgte eine lange Durststrecke. "Zehn Jahre, acht Monate und 20 Tage" waren die Lokale vom Verkehr abgeschnitten. Die Stammkundschaft sicherte das Überleben. Inzwischen hat sich der Himmel über den Traditionshäusern wieder aufgehellt. Zur Brückeneröffnung kamen viele Gäste - wie einst in den dreißiger Jahren.

Die MAZ-Serie "100 Jahre Teltowkanal" steht im Internet unter www.MaerkischeAllgemeine.de/teltowkanal. (Potsdam-Mittelmark)