Märkische
Allgemeine Zeitung 10.05.2005
KONSTANZE WILD
KLEINMACHNOW Während andernorts die Stuhlreihen oftmals
leer blieben, angesichts offizieller Gedenkveranstaltungen an den 8. Mai,
füllten sich die mit Wolldecken gerüsteten Plastikschemel am Fuße des Seebergs
trotz Wetterwarnung und klammer Temperaturen: Ein politischer Text an einem
politischen Ort zu einer politischen Zeit. Im Dezember 1943 ist Nordahl Grieg
als freiwilliger Kriegsberichterstatter mit einem britischen Kampf-Flugzeug
über dem Teltow-Kanal abgestürzt. Heute erinnert ein Gedenkstein an den kritischen
norwegischen Autor, der mit Leib und Leben gegen den Nationalsozialismus zu
Felde zog.
Mit Hans Magnus Enzensbergers "Untergang der
Titanic" hat Regisseur Laszlo Kornitzer hier eine Lesung auf diese
"Waldbühne" gebracht. Die Katastrophengeschichte des Ozean-Dampfers
gibt dem Ganzen seinen Namen. Wie ein Menetekel bildet Gericaults Gemälde
"Das Floß der Medusa" den Hintergrund der Naturkulisse. Durch die
Symbiose von Malerei, Dichtung und Musik schafft Kornitzer ein Gewebe, welches
Raum und Zeit verknüpft.
Fünf Schauspieler, unter ihnen die bekannte, ehemalige
Fassbinder-Darstellerin Irm Hermann, entfesseln gemeinsam mit der
hervorragenden Saxophonistin Karola Ellsner unter freiem Himmel ein eigentlich
ganz intimes Kammerspiel. Sprachlich intensiv, mit minimalistischen
Bewegungsmustern und einer beeindruckenden musikalischen Gestaltung - von Bachs
Cello-Suite bis zu kargen improvisatorischen Tönen - erscheint das im weiten
Naturraum jedoch nicht als Widerspruch. Eine poetische Metapher für ein wahrlich
katastrophales Jahrhundert. Eine Art Revue, die der Autor selbst eine Komödie
nennt - wenngleich einem das Lachen angesichts sarkastischer und grausamer
Beschreibungen des Lebens und Sterbens auf dem sinkenden Havaristen schnell im
Halse stecken bleibt. Zehn Jahre hat Enzensberger am Text gearbeitet. Manchmal
erscheint er brüchig. Vom Geschehen an Bord, aus der Sicht eines ertrinkenden
Erzählers, weiten sich die Gesänge episch aus. Eine Fülle von Motiven und
Anspielungen spannen ein politisch-gesellschaftliches Katastrophenpanorama,
eine fundamentale Gesellschaftskritik, welche den Zuhörer gleichsam hin- und
herschwappen lässt, wie die "leckenden Wellen" des grausam-kalten
Atlantiks. Und immer, die Überlebensstatistik der Titanic führt es hemmungslos
vor Augen, sind es die unteren Schichten, die es zuerst und am meisten trifft:
"Alle sind in einem Boot, aber wer arm ist, geht schneller unter."
Ob Technikgläubigkeit, politische Verwerfungen,
moralisch-menschliche Exzesse: "Der Aufprall (Eisberg) war federleicht"
konstatiert der sich Erinnernde. Epische Beschreibungen führen die
Allmählichkeit von Katastrophen vor. Politisch und poetisch zugleich, reicht
der über dreißig Jahre alte Text bis in die Gegenwart. Trotz schwerer
Schiffbrüche der Menschheit, vom gesellschaftlichen Scheitern bis zur
persönlichen Niederlage, bleibt die Devise: "Vor uns die Sintflut."
Mit dieser "Voraufführung, einer Art öffentlicher
Probe", wie Produzentin Ina Schott die wortgewaltige Lesung am Seeufer
bescheiden titelt, ist der aus sieben Mitgliedern bestehende Trägerverein
Kammerspiele das erste Mal mit einer Produktion an die Öffentlichkeit getreten.
Darüber hinaus fungiere der Trägerverein, der auf eine Premiere im Juni in den
Kammerspielen hofft, nun auch als Verhandlungsführer, um zu einer Einigung mit
dem Eigentümer der Kammerspiele, Karl-Heinz Bornemann, zu gelangen. Der
Förderverein unterstützt die Arbeit. Mit dem Ziel, das alte Kulturhaus wieder
zu beleben, möchte man ein Forum schaffen, unter dessen Dach sich nicht zuletzt
Alt- und Neubürger gemeinsam engagieren können, betont Vereinsvorsitzender
Gunnar Hille.